Illusion

von Markus

Die Kurzform dieses Eintrags speziell für Richi: Yes!!

Tag 4: 18. Januar 2014

Bereits die ganze Woche bin ich etwas nervös. Ich weiss, dass ich die „Illusion“ klettern und mir damit einen 35 Jahre währenden Wunsch erfüllen kann. Ich weiss auch, weshalb ich so nervös bin. Diese Route bedeutet mir so extrem viel. Sie bildet für mich die Brücke zwischen meinen beiden Kletterleben und es ist für mich extrem wichtig über diese Brücke zu gehen. Es ist aber auch das Alter, welches mir aufzeigt, dass ich all die aufgeschobenen Projekte nun endlich erledigen muss. Besser werde ich wohl kaum mehr. Heute, am 18. Januar nach vielen Irrungen und Wirrungen in meinem Leben halte ich alle notwendigen Puzzle-Teile in der Hand. Es liegt einzig und allein an mir, die Teile zu einem vollkommenen Ganzen zusammen zu setzen. Für mich ist auch der Zeitpunkt wichtig. Gemäss Fluebible hat Richi die Route am 5. Februar 1979 geklettert, also vor ziemlich genau 35 Jahren! 

Stündlich schaue ich auf die Wettervorhersage. Das Angebot ist breitgefächert und geht von strahlend schön bis Schneefall. Ich brauche lediglich ein Zeitfenster von vielleicht 3 Stunden um alles unter Dach und Fach zu bringen. 

Illusion - Route 12 (Foto aus der Fluebible)
Wir treffen uns spät auf P Angenstein und stehen wenig später unter der Daumen Ostwand. Eine unglaubliche Nervosität überkommt mich und es hämmert immer die gleiche Frage: Klappt es heute? 

Es kommt ein kühler Wind auf, die Sonne mag nicht richtig wärmen. Es ist etwas kühl. Zu kühl? Oh, das wäre doch eine schöne Ausrede, die Route nicht klettern zu müssen! Schon bald hängen die Express in der Wand. Ich entscheide mich, nochmals einen Erkundungsdurchgang durch die Route zu machen. Es ist nachmittags um etwa 14 Uhr und endlich wärmt die Sonne etwas während ich in der Wand hänge. Der Grip ist sensationell, die Wand ist komplett trocken, es herrschen ideale Bedingungen. Ab dem dritten Bolt spüre ich weder meine Finger noch meine Zehen und trotzdem klettere ich weiter. Ich kenne ja die Griffe und Tritte auswendig und ich weiss, wie viel ich halten mag und wie viel Druck ich auf die Füsse bringen muss um nicht abzurutschen. Das ist Klettern auf Sicht in etwas anderer Auslegung des Begriffs. Die Schlüsselstelle geht auf Anhieb, alles kein Problem, alles im grünen Bereich. Und trotzdem werde ich immer nervöser. Mein Hirn findet mindestens 50 Ausreden, heute diese Route nicht zu klettern. Nach einer Pause mit viel heissem Tee ist es soweit. Der Wind wird wieder stärker, die Sonne verschwindet nun definitiv hinter dichten Wolken und die Temperatur sinkt. Ich muss mich sofort entscheiden, sonst erfriert meine Sicherungspartnerin. Ich begebe mich an den Start der „Illusion“, ziehe das Seil ab, binde mich ein, bereite mich für den Vorstieg vor. 

Vor vielen Jahren habe ich von Dominik den Tipp erhalten, beim Klettern sich via Musik zu konzentrieren um der Nervosität Herr zu werden und um die Konzentration zu erhöhen. Ich mag mich noch gut an meine erste 6c+ erinnern. Dabei sicherte mich Dominik und ich summte für mich den Song „Engel“ von Rammstein vor mich hin. Was heisst da summte? Ich sang immer wieder den Refrain „Gott weiss ich will kein Engel sein“. Seither fehlen ein paar Bäume in der Bettlerküche. Aber das ist ein anderes Thema. Der Tipp von Dominik hat genützt und ich konnte die 6c+ in meinem zweiten Versuch klettern. Was vor vielen Jahren genützt hat, wird doch auch dieses Mal etwas bringen, denke ich mir in der Vorbereitungszeit bis zum 18. Januar. Weil ich ja weiss, wie wichtig mir die „Illusion“ ist weiss ich auch, dass ich wohl vor Nervosität zittern werde. Die ganze Woche habe ich mir über einen Song Gedanken gemacht und am Mittwochabend, etwas mitgenommen von viel Champagner, Wein und Bier auf dem Nachhauseweg von Bern, habe ich den richtigen Song gefunden. Es muss Heavy Metal sein, es muss laut sein, es muss hart sein, es muss fordernd sein. Es ist der Song „The Devil Cried“ von Black Sabbath. Der Song ist auf der CD „The Dio Years“ zu finden und natürlich auf Youtube (Andreas: das wäre jetzt der Song, den wir schon mal zusammen gesucht haben).

So stehe ich nun einmal mehr in meinen geliebten, jetzt etwas zu satt gebundenen Five Ten blanco etwas belämmert in die Gegend schauend und nicht wissend was kommen wird am Anfang der „Illusion“. Ein letzter Kontrollblick – Ready, Steady, Go. Song ab:

One fine day in Hell
The master told a story
Someone lied so well
He sent him back to Glory
 

Glory – genau. Das möchte ich auch mal wieder haben. Also muss ich kämpfen. Die ersten Moves gehen überraschend gut. Die Nervosität ist weg. Vor dem dritten Bolt gibt es einen sehr guten No-Hand-Rest. Diesen benutze ich intensiv, währendem Ronnie James Dio die zweite Strophe singt

There are whispers between the screams
That this deed can be done
Even sinners must dream
And I can be the one to make the Devil cry

Die zweite Strophe ist vorbei, ich bin vollkommen konzentriert und ruhig. Die dritte Strophe beginnt.

I can win this game
If all things come together
I know this sounds quite strange
I won't be smart, just clever

Just beim Wort "clever" habe ich die heikle Stelle über den dritten Bolt sauber geschafft und stehe nun etwas verloren in der Wand. Zu einfach ist diese Stelle gegangen, viel zu einfach. Deshalb kann ich die nun folgende Strophe locker angehen und etwas umständlich zum vierten Bolt klettern. Meine Sicherungspartnerin motiviert mich zusätzlich. Sie glaubt an mich und feuert mich zusätzlich an.

It's the law on the other side
Just one tear lets you run
And though many have tried
I know I'll be the one to make the Devil cry

Ich stehe nun exakt unter der Schlüsselstelle. Ich weiss, ich kann diese nächsten für mich sehr schweren Meter klettern. Noch mehr Fokussierung auf die Füsse, die Fingerspitzen werden langsam kalt. Da beginnt auch schon die nächste Strophe in meinem Hirn zu hämmern und lässt mir keine Chance. Ich muss tun, was kommt.

At last my time has come
I must not give him pleasure
I can be the one
One chance or burn forever

Im Gegensatz zum Songtext ist es ein Vergnügen die Schlüsselstelle zu klettern. Die Moves gehen wunderbar, alles geht ganz locker. Diese Chance habe ich genutzt. Es bleibt der allerletzte Move an die Kante. Wie bereits beim Ausbouldern mehr als einmal passiert, rutschen mir die Füsse weg und ich hänge etwas verkrampft am grossen Henkel und sortiere die Füsse.
 
So I told him about my pain
And the life I've been through
He just smiled and the laughter came
Then I told him that I love you, and the Devil cried
 

Ich setze zum letzten etwas wackligen Zug an und schon stehe ich beim Umlenker. Erleichtert klinke ich diesen ein.

Tears from his eyes
Eyes of fire
And the Devil cried
 

Ob nun der Teufel weint, das weiss ich nicht. Ich bin es auf jeden Fall nicht, der weint, sondern sich unendlich freut. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl durchflutet mich. Ich habe die „Illusion“ geklettert, fehlerfrei alle Puzzle-Teile richtig zusammengesetzt. Entgegen meiner allerersten Einschätzung gehöre ich nun doch nicht zur Generation 70+ und werde definitiv auch nicht die Express zum Kilopreis auf ricardo.ch verkaufen. Nein, ich werde mich völlig losgelöst an neue Projekte wagen und wissen – it's all in your mind. 

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich richtig erinnere. Der Routenname basiert nicht auf der normalen umgangssprachlichen Illusion,  sondern auf einem Buch(?) von Carlos Castaneda. Ich frage mal Richi, wenn ich ihn dann wieder einmal im B2 sehe. 

Bewertung der Illusion (Foto aus der Fluebible)

Wenn ich mich ins Jahr 1979 zurückversetze und nachdenke, was, wie und warum ich seinerzeit geklettert bin, so stellt für mich heute die „Illusion“ ein wirklicher Meilenstein dar. An dieser Stelle möchte ich Richi für seine Weitsicht im 1979 danken, uns Kletterern ein solches Denkmal zu schaffen und dem seinerzeitigen Establishment schlicht den Vogel zu zeigen! Super.

Herzlichsten Dank auch an meine Mitstreiter Markus, Roland, Jüschi, Heike und Andrea, welche mich mit ihrer unendlichen Geduld diesen Traum haben wahr werden lassen. Und nicht zu vergessen der junge Jura-Saurier, der mich mental bei unseren gemeinsamen Trips an die Parois des Romains wieder auf Vordermann gebracht hat!

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Super, gratuliere...!!!!
der Name ist einem Buch von Richard Bach (Möve Jonathan) nach empfunden. In seinem zweiten Buch "Illusionen" (ziemlich esoterisch) beschreibt er , wie es möglich ist mit einem starken Willen selbst durch Wände gehen zu können (???) Soweit ich mich erinnere, ist ja auch schon 35 Jahre her und dann kam ja die ANACHIA... allez.. Gruss Richi
Markus hat gesagt…
Besten Dank Richi. Damit ist auch das letzte Rätsel der Illusion gelöst. Die Anarchia hat aber noch weniger Griffe und Tritte.... Das wird verdelli schwer...
Chris hat gesagt…
Wenn ich mit Heavy Metal im Kopf klettern würde, fiele ich in einem hohen Bogen aus jeder Wand ungeachtet des leichtesten Schwierigkeitsgrads.... ;)
Eine Illusion ist nicht unbedingt das was man sieht, vielmehr lediglich das was man sehen will. Ist es also der Wille der Realität erst möglich macht? Es wäre aber illusorisch zu sagen, es gäbe in der Realität keine Illusionen. Aber, Markus, es fühlt sich bestimmt gut an, wenn wenigstens diese 'Illusion' zur Realität geworden ist, gell?