Schiefer Traum, Handeck

von Markus

Brrrrrooooooaahhhhhhhhh!!!!! Heiligs Blechle. Was ist denn jetzt passiert? Brummm. Brummm. Brrrrrooooooaahhhhhhhhh!!!!!! Brrrrrooooooaahhhhhhhhh!!!!!! Ja, du meine Güte! Da scheint es einer aber ganz eilig zu haben. Ich schaue auf die Uhr. 06:00 Uhr. Die Rennstrecke hoch zum Grimselpass ist eröffnet.

Ein wolkenloser Himmel kündigt einen weiteren wunderschönen und wettersicheren Tag am Grimsel an. Der Motorrad-Fahrer hat dies wohl auch gesehen und wird sicher in 2 Stunden und nach 4 Pässen spätestens um 7:30 Uhr bei seiner Familie sitzen und Gipfeli aus dem Tessin mitbringen, welche er nach einem Cappuccino in Ascona erstanden hat.

Heute ist der grosse Tag, der zweite Tag des Handeck-Trips zusammen mit Jürgen. Auf dem Programm steht die Route „Schiefer Traum“ an der Spiegelwand. Weshalb die Wand diesen Namen erhalten hat, ist klar ersichtlich. Die Route muss wohl spiegelglatt sein. Auf der Filidor-Website habe ich vor einiger Zeit das Topo zu „Schiefer Traum“ entdeckt. Die Route sei nun auf „plaisir“-Standard saniert. Jeder der schon mal die Spiegelwand gesehen hat und Plattenkletterei liebt wird den Wunsch verspüren, durch diese Wand zu schleichen. Die Schwierigkeiten werden mit bis 6a+ angegeben. Eine Platte mit Bewertung 6a+ wird es dann wohl schon in sich haben, da wird das Adrenalin wieder in den Ohren rauschen! Das ist doch das, was wir alle wollen: Adrenalin

Die Spiegelwand wird von der Sonne direkt beschienen

Die Route wurde in den späten 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts eingerichtet und ich wollte die Route um 1980 klettern. Doch ich fand niemanden, der mit mir dieses Abenteuer angehen wollte und in der Retrospektive muss ich sagen, dass das wohl sehr gut so war.

Es macht keinen Sinn, vor 11 Uhr in die Route zu steigen, denn von oben zieht ein nasser Wasser-Streifen direkt über die Route. Dies steht in allen Kletterführern so drin und dem kann ich nur beipflichten. Ich frage mich allerdings, von wo das Wasser denn herkommt. Es hat seit Tagen nicht geregnet.

Hochmotiviert machen wir uns auf den Weg zum Einstieg. Wir finden das angegebene Fixseil und klettern daran hoch. Der Weg führt durch mannhohes Gras und wärmt unangenehm intensiv unsere noch etwas steifen Knochen und bringt zumindest mich zum Keuchen. Gemäss Topo suchen wir einen „markanten Block“. Wir stehen nun im Bachbett unter der Route und suchen den „markanten Block“, finden ihn aber nicht. Mich haut es dann noch „auf den Latz“ und deshalb spüre ich noch Tage später meine linke Fudi-Backe. Wir überlegen lange hin und her und plötzlich sehe ich eher zufällig ein Irniger-Plättli an einem ganz anderen Ort in der Sonne glänzen. Sofort ist der Weg klar. Der „markante Block“ muss etwas oberhalb sein. Wir klettern zum Irniger-Plättli hoch. Stand. Jürgen klettert weiter nach rechts, ungesichert durch hohes Gras und nie wissend, ob das Zeug worauf er steht hält oder nicht. Bei mir ist jetzt schon der Adrenalin-Pegel ganz oben. Jürgen findet einen neuen Bohrhaken, die Route kann also nicht mehr weit weg sein. Doch er findet den „markanten Block“ einfach nicht und auch nicht neue Bohrhaken. Die Zeit verfliegt, die Nerven sind gespannt. Wir suchen intensiv die Spiegelwand nach neuen Bohrhaken ab, finden aber nichts. Die Sonne blendet uns und macht uns fast blind. Es ist auch nicht verwunderlich, dass wir nichts finden. Denn steht man unter der Wand, dann wird diese riesengross, sodass sich Bohrhaken in der Weite der Wand einfach verlieren. Was ist zu tun? Seit 2 ½ Stunden sind wir nun unterwegs und haben den Einstieg immer noch nicht gefunden. Die Nervosität steigt, Müdigkeit macht sich breit, auch etwas Enttäuschung. Sind wir wirklich zu doof um den Einstieg in die Route zu finden? Es muss so sein! Schweren Herzens brechen wir die Übung ab und kehren zu unseren Rucksäcken am Wandfuss zurück. Enttäuscht steigen wir ab, finden das Fixseil wieder und sitzen anschliessend in der heissen Sonne.

Jetzt schon nach Hause gehen? Nein, das dann schon nicht. Es bleibt nur eine Route übrig, welche wir noch klettern können. Es ist dies der „Quarzriss“, gleich rechts der Handeck-Verschneidung. Wir schauen uns an und entscheiden uns sofort, diese Route anzugehen. Noch tags zuvor habe ich mir geschworen, diesen äusserst mühsamen Aufstieg zur Handeck-Verschneidung nie mehr anzugehen. Keine 24 Stunden kämpfe ich mich wieder durch das hohe Gras, schnaufe wie ein Ross und schwitze wie in der Sauna. Was man doch nicht alles für eine schöne Klettertour tut! Den „Quarzriss“ kenne ich bereits, ich bin diese Route schon drei- oder viermal geklettert. Am Abend vorher haben wir noch erfahren, dass ein Bergsturz ein paar Haken demoliert haben soll. Näheres sei aber nicht bekannt. Ja gut, gestern haben wir ja die tschechische Familie in der Route klettern sehen, dann wird es schon noch Bohrhaken haben. Es wird schon gut gehen.

Jürgen bindet sich ins Seil ein und klettert die erste Seillänge locker hoch. Ich folge ihm, es macht unheimlich viel Spass diese Seillänge zu klettern. Wechsel. Ich bin nun am scharfen Ende des Seils. Die Sonne brennt vom Himmel, der Schweiss läuft mir in die Augen, die Waden brennen, die Zehen sind taub vor Schmerz. Ich beginne mit der zweiten Seillänge. Der erste Bohrhaken sieht schon etwas mitgenommen aus, der würde mich aber auf jeden Fall halten. Beim zweiten Bohrhaken erlebe ich intensive Momente. Der letzte Bohrhaken ist jetzt rund 4 Meter weiter unten und diesen vor mir kann ich nicht einhängen. Weshalb? Den hat der Bergsturz tatsächlich ramponiert. Irgendwie hat diesen Haken jemand wieder hoch gebogen, doch die Öse ist nicht mehr rund, sondern oval. Da geht der Karabiner des Express nicht mehr durch. Alle Tricks helfen nicht. Dafür rutscht langsam mein Fuss vom Tritt und der Reibungsgriff hält auch nicht mehr so richtig. Der Schweiss strömt jetzt noch mehr. Ich sehe mich schon 8 Meter runtersegeln. Alternativ könnte ich nun einfach weiterklettern. Doch schon allein bei diesem Gedanken rutscht mein Herz in die Hose. Plötzlich höre ich Jürgen vom Standplatz rufen, dass ich noch schmalere Express dabei habe. An die habe ich in der Hitze des Gefechtes gar nicht mehr gedacht. Sofort packe ich einen der schmalen Express und kann den Bolt klippen. Jesses, war das knapp. Der Rest der Seillänge ist dann wieder traumhaft zu klettern und die etwas ramponierten Bolts weiss ich ja jetzt wie zu klippen. Jürgen cruised anschliessend durch Seillänge 3 und mich kocht die letzte Seillänge vollends gar. Die Hitze, die Müdigkeit, die Anstrengung, die schmerzenden Zehen hinterlassen deutliche Spuren. Am Ende der Route angekommen, bin ich überglücklich aber auch ziemlich fertig.

Irgendwie wurmt es mich, dass wir den Einstieg zu „Schiefer Traum“ nicht gefunden haben. Ich stelle mir vor, dass Leute unterwegs waren und mit ganz viel Liebe und noch viel mehr Mühe und enormen Zeitaufwand eine Route in der kaum begangenen Spiegelwand sanieren und dann klettert sie keiner. Es lässt mir keine Ruhe und so schreibe ich dem Filidor-Verlag. Wenige Tage später spreche ich mit Knut über die Sanierung der Route und wie der Einstieg zu finden ist. Ich persönlich bewundere Knut und seine Sanierungs-Freunde, denn es braucht enorm viel Engagement, Wille und wohl noch mehr Enthusiasmus um eine Route wie den „Schiefer Traum“ zu sanieren. Wir telefonieren lange zusammen, lachen viel und Knut lässt mich an seinen Erlebnissen während der Sanierung teilhaben. Ich sage dazu nur: „Chapeau“. Und was auch klar wird: das, was Hans Howald Ende der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts an der Spiegelwand geleistet hat, das kann gar nicht hoch genug bewertet werden. 30 Meter von Stand zu Stand ohne Zwischensicherung, bei einer Schwierigkeit von dazumal 6-. Da fällt mir nichts mehr ein! Eigentlich sollte Knut selber schreiben, was er bei der Sanierung erlebt hat. Vielleicht bringe ich ihn noch dazu, seine Eindrücke zu Papier zu bringen. Und noch besser wäre, die Eindrücke von Hans während der Erschliessung der Route zu kennen. Die Geschichte hinter der Route interessiert mich sehr. Werde ich sie je erfahren?

Kurz nachdem ich mit Knut gesprochen habe, erhalte ich von ihm das überarbeitete Topo. Dieses ist auch auf der Filidor-Website zu finden oder nun auch hier auf verticalsoul. Ich selber werde versuchen, die Route nächstes Jahr zu klettern. Plaisir, 6a+ und Platte – das muss einfach toll sein. Und die Erzählungen von Knut werden mich bei jedem Move in der Route begleiten.

Das Topo ist einfach im Internet zu finden. (Danke Knut).


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