In die Vergangenheit und zurück

von Markus

Prolog: September 2016

Nun sitze ich auf der Terrasse bei mir zu Hause in Oberwil, die Sonne scheint mir ins Gesicht und wärmt angenehm den etwas müden Körper. Es ist ein Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Ich bin glücklich und zufrieden, denn ein erlebnisreicher Klettertag liegt hinter mir. Ich habe schon des Öfteren geschrieben, dass ich einen einzigartig schönen Tag beim Klettern erlebte, doch dieser Tag heute übertrifft nun einfach alles. Der heutige Tag ist der Beginn einer nie geahnten Trilogie + 1. 

Doch bevor ich die Trilogie + 1 beschreiben kann, muss ich - wie immer - weit in mein schon mit einer nicht zu unterschätzenden hohen Anzahl von Jahren bestücktes Leben in Gedanken zurückschweifen. Ja, bei mir beginnt das Alter langsam seine interessanten Seiten anzunehmen. Ich erinnere mich an längst vergangene Tage und Abenteuer, als wäre es erst gestern gewesen. Ich erinnere mich an glückliche und weniger glückliche Momente und ich erinnere mich gerne an meine Jugend, als langsam aber sicher das Klettern sich den Weg in mein Leben bahnte. Und ich erinnere mich an offene Projekte und Menschen aus jener Zeit, die ich noch unbedingt vor meinem persönlichen ganz grossen Finale abschliessen bzw. treffen möchte. Über die Projekte habe ich die Macht des Wollens, über das Treffen der damals wichtigen Menschen kann nur das Glück und der Zufall befinden.

Im zarten Alter von 13 Jahren schloss ich mich zusammen mit meinem Sandkasten-Freund Roland S. auf Empfehlung seines Vaters der JO Basel-Stadt, die Jugend-Organisation des SAC, an, denn wir sollten und wollten sehr gute Bergsteiger werden. Das Clublokal war seinerzeit am Nadelberg in Basel domiziliert, also an einer heutigen Top-Wohnadresse. Schnell wurde uns klar, wer denn die Protagonisten der JO waren. Klingende Namen wie Jürg Tenger, Jürg Meyer, Andreas Pfeuti, die Gebrüder Kaspar und Urs Renggli und Christian Jäggi gehörten aus unserer Sicht zu den Top-Kletterern dieser Welt und wir bewunderten sie über alle Massen. Wir wollten auch so stark und gut werden wie sie. Wenn ich heute von ihnen erstbegangene Routen klettere, dann bewundere ich sie immer noch. Seinerzeit kletterten sie den VI. Grad, sie konnten also gemäss der damals gültigen Skala die schwierigsten Routen klettern. Wie definierte sich seinerzeit VI+? Hier die Antwort:

Mit VI+ wird eine Freikletterstelle bezeichnet, deren Überwindung für die besten Felskletterer in Hochform, bei günstigen Verhältnissen (trockener Fels), unter optimaler Ausnutzung der Felsbeschaffenheit (Griffe, Tritte, Reibung) und beim heutigen Ausrüstungsstand (Profilgummisohle ) immer ein Gang an der Sturzgrenze bedeutet. Meist nur auf wenige Meter beschränkt. Im Hochgebirge seltener als in Klettergärten. Eine Passage im Schwierigkeitsgrad VI+ ist definitionsgemäss bei winterlichen Verhältnissen ohne zusätzliche Haken als Fortbewegungshilfen in der Regel unbezwingbar.

Es gab seinerzeit jedoch einen Menschen, den ich noch mehr bewunderte. Und hier folgt die dazugehörende Geschichte.

Es war irgendwann zwischen 1975 und 1977, als Roland S. und ich uns zu einer 2-Tages-JO Basel-Stadt-Tour an den Brüggler anmeldeten. Wir wussten weder wo das war, noch wie wir dorthin gelangen sollten noch was uns erwartete. Wir wussten nur, das der beste Kletterer der JO die Tour leiten würde. Das war Grund genug mitzugehen und gab uns die notwendige Sicherheit. Der Tag kam an den Himmel und wir gingen zum Brüggler. Die Tour war bestens organisiert. Wir kletterten in Bollerschuhen durch eine wunderschöne und aus heutiger Sicht nicht sehr schwere Route (Silvester?), immer gut beobachtet vom Tour-Organisator. Das war ja sowieso ein etwas bunter Vogel, ein feiner und sehr interessanter Mensch. Er trug, entgegen der damaligen Kletterer-Kleiderordnung, keine Kniebundhose und definitiv keine roten Socken. Und – das war das Faszinierendste überhaupt – er kletterte mit diesen modernen profillosen Kletterschuhen. Das machte den Mann noch spannender. Zudem trug er weisse Malerhosen beim Klettern! Die Haare trug er, wie ich auch (ja, ich hatte einst viel von den Dingern auf dem Kopf), lang. Revolution! Roland S. und ich fanden das absolut spannend. Da ich in einer gut bürgerlichen und gut behüteten Umgebung aufwuchs, interessierte mich Revolution doch sehr. Das war auch die Zeit, an dem ich zum Leidwesen meiner Umgebung zum leidenschaftlichen Liebhaber von Heavy Metal wurde und bis heute, trotz mehrmaliger lieb gemeinter Versuche der Neuorientierung, geblieben bin. So ein „Motörhead“ von Lemmy auf dem Album „No Sleep ‚til Hammersmith“ ist einfach nicht zu überbieten! In 3 Minuten ist alles gesagt! Und exakt wegen diesem Album heisst die Route „Motörhead“ am Eldorado Motörhead.

Die Tour an den Brüggler blieb in lebhafter und sehr guter Erinnerung. Der Tour-Organisator brachte uns alle wieder gesund und munter nach Hause und das Leben nahm seinen gewohnten Lauf mit viel interessanter Arbeit in meiner kaufmännischen Lehre bei den Basler Versicherungen. Irgendwann hörte ich, dass der Tour-Organisator nun definitiv über dem Limit von allen klettern solle, nun also noch besser als die Besten war. Ich wusste doch, dass Revolution etwas bewirkt und ich war sehr stolz, dass ich mit ihm am Brüggler unterwegs gewesen war.

Es vergingen Jahrzehnte, bis wir uns wieder sehen sollten. Es war an einem Silvesternachmittag im B2, Europas bester Boulderhalle. Ich erkannte ihn sofort und ich musste allen Mut zusammennehmen, um ihn anzusprechen. Das will bei mir ja schon etwas heissen! Er schwebte und schwebt für mich als Lichtgestalt des Freikletterns im Basler Jura über allem. Wir verabredeten uns, dass wir zusammen seine legendäre „Illusion“ an der Daumen Ostwand klettern wollen. Die „Illusion“ ist die erste Route, welche im Basler Jura mit VII- bewertet wurde, also höher als der damals gültige Maximalwert von VI+. Und wieder verloren wir uns etwas aus den Augen, allerdings wissend, dass wir noch dieses Projekt zu erledigen hätten.

Ich konnte dann doch nicht die Finger von der „Illusion“ lassen und kletterte sein Meisterstück im Februar 2014, so ziemlich auf den Tag genau 35 Jahre nach der Erstbegehung. Wir trafen uns immer wieder an verregneten Samstag-Nachmittagen im B2 und ich lernte enorm viel vom Meister des Bouldern. In der Zwischenzeit dürfte es den Locals in der Umgebung von Basel klar sein, um welchen Kletterer es sich handelt: Richi Signer

An einem heissen Samstag anfangs September 2016 ergab es sich, dass Roland U., Richi und ich zusammen an den Rochers du Midi unterwegs waren. Ich sicherte Richi in seiner Aufwärmtour. Erst als er wieder neben mir stand realisierte ich, was passiert war. Rund 40 Jahre nach dem Brüggler-Abenteuer und damit Jahrzehnte später kletterte ich zum ersten Mal zusammen mit meinem Idol aus jungen Jahren. Keiner realisierte Gott sei Dank, dass ich vor lauter Glück zwei kleine Tränen aus meinen Augen wischte.

So schloss sich der Kreis und es sollte der Beginn eines wunderbaren Herbstes 2016 mit der fantastischen Trilogie + 1 werden. Manchmal dauert es einfach etwas länger bis zur Première und zu einem guten Start in eine wunderschöne Zukunft.

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