Trilogie + 1: Zweiter Streich

von Markus

Der Wetterbericht kündigt Regen für den 1. Oktober 2016 an. Das ist mein samstäglicher Klettertag. Was ist zu tun? Ein Plan muss her! Es gibt einen Sektor an den Rochers du Midi, an dem auch bei starkem Regen geklettert werden kann. Der Sektor ist von einem grossen Dach geschützt und so fällt seit vielen Jahren kein Wasser über die Felsen. Es ist ein etwas staubiger Sektor.

Nun gut, besser sich an staubigen Felsen bewegen, als in der Magnesia-Hölle zu schmoren. Ich gehe sehr gerne ins B2, doch an einem Samstag versuche ich den Gang in eine Kletter-Halle so gut wie nur irgendwie möglich zu vermeiden. Am Samstag kann das Training warten.  Während der ganzen Woche sitze ich viel im Zug und im Büro. Einmal pro Woche tut auch mir frische Luft gut.

Wie vereinbart, treffe ich Richi in Oberwil und wir machen uns auf den Weg zu den Rochers du Midi. Das Auto kennt den Weg in der Zwischenzeit ganz von alleine, es fährt ruhig vor sich hin. Das Wetterradar verheisst nichts Gutes, es kündigt eine grosse Wolke auf 12 Uhr im Bereich Courrendlin an. Das ist mir jedoch völlig egal, denn es gibt ja diesen einen immer trockenen und staubigen Sektor. Kurz vor Courrendlin meint es Petrus sehr gut und öffnet die Schleusen. Es ist könnte ein lokaler Schauer sein - oder auch nicht. Es regnet so heftig, dass Klettern im Staub-Sektor auch nicht wirklich Freude machen wird. Kurzentschlossen sagt Richi: „Arête spéciale!“ „Oh ja! Das ist eine sehr gute Idee“ entgegne ich Richi. „Den Spez habe ich vor über 10 Jahren das letzte Mal geklettert. Juhui.“ Die Fahrt geht zügig weiter und schon bald sind wir in Moutier. Ein kritischer Blick an den Himmel verheisst weiter nichts Gutes und wir lassen den Spez links liegen. Wir fahren weiter Richtung Plagne. Es ist immer wieder schön, durch den Jura zu fahren, wären nur nicht diese dunklen Wolken am Himmel. Hmm... In Plagne angekommen beginnt es auch dort zu regnen. Oh Jesses! Mental mache ich mich auf eine lange Rückreise nach Pratteln ins B2 gefasst. Offenbar hat es nicht sein sollen, dass wir an diesem Samstag draussen klettern. Richi sieht sicher meinen etwas enttäuschten und verzweifelten Gesichtsausdruck. Er überlegt 5 Minuten, dann ist der Entscheid gefasst. Wenn wir schon ins B2 gehen, dann können wir von Plagne aus auch durchs Mittelland via Härkinger-Dreieck nach Pratteln fahren. Vielleicht ist das Wetter im Mittelland besser. You never know. No Risk – No Fun.

Und tatsächlich ist es so. Das Wetter im Mittelland ist deutlich besser. Es ist trocken, die Wolken hängen tief, sehr tief. Es wird jedoch sicher nicht in den nächsten 2 Stunden regnen. Plötzlich sagt Richi: „King Way!“ Und ich frage: „King Way?“ Richi antwortet: „King Way!“

Und dann rattert es ganz gehörig meinem Hirn. Ich grabe alle Informationen über die Route aus. Viel Gutes habe ich gehört und sehr viel Schlechtes. Das Schlechte zuerst: brüchig, brüchig, brüchig. Schwierig zu lesen, nicht gut gesichert, blöde Quergänge, unlohnend. Das Gute: traumhafte Route in gutem Fels, manchmal nicht ganz so kompakt, fantastische Linie hoch über Oensingen, sehr gut gesichert, sehr lohnend. Ich glaube an das Gute.

Wir parkieren das Auto und tigern zum Einstieg hoch. Ach, muss ich keuchen bis ich am Einstieg bin. Und dann sehe ich endlich den Bränten und erschrecke. Jesses – einen solchen  Bruchhaufen habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen geschweige denn daran geklettert. Wird der Fels mein Gewicht überhaupt tragen? Und dann der Einstieg, da komme ich nicht mal den ersten Meter hoch. Oh wei, da habe ich mich aber auf ein grosses und spezielles Abenteuer eingelassen.

Nach einer kurzen Stärkung schreiten wir zur Tat. Richi steigt vor und nach kurzer Zeit höre ich von weit oben „Stand“. Schnell binde ich mich ins Seil ein, rücke den Klettergurt zurecht, öffne das Säckchen mit dem Lügenpulver und ärgere mich einmal mehr über meine Kletterschuhe. Bis ich die jedes Mal geschnürt habe... Ich weiss, es gibt Alternativen. Die liegen zu Hause im Schrank und warten auf den Einsatz. Ein letzter Check, alles perfekt und los geht die Reise. Der erste Meter ist jetzt doch nicht so schwer, wie ich mir das vorgestellt habe. Und entgegen des ersten Eindrucks finde ich nicht einen losen Griff oder Tritt. Sollte das Gute tatsächlich siegen? Das Klettern macht richtig Freude, alles passt perfekt und nach gefühlt 30 Sekunden stehe ich am ersten Stand, einem sehr bequemen Standplatz. Eine wunderbare Seillänge liegt hinter mir. Was wird die zweite Seillänge bringen? Nach einem kurzen Quergang nach links stehe ich unter einer fantastischen Wand. Ich klettere wie in Trance über bombenfesten Fels und - shame on me - benutze die von einem engagierten Kletterer üppig verteilten Tickmarks. Das erleichtert das Leben ungemein. Wobei – die Tickmarks würde es gar nicht brauchen, so gross und ideal verteilt sind die Griffe. Gegen Ende der Seillänge treffe ich ein Kuriosum aus längst vergangener Kletterzeit an. Es ist eine grosse Schrauben-Mutter, durch deren Loch eine Schlinge gefädelt ist. Ich hätte nie gedacht, dass ich im Solothurner Jura eine Keilkonstruktion aus der frühesten Zeit des Freikletterns entdecken würde. Richi erklärt mir anschliessend, was es mit dieser Konstruktion auf sich hat. Und einmal mehr bewundere ich die Genialität des menschlichen Geistes Dinge zu erfinden, um dem liebsten Hobby nachgehen zu können. 

Richi im Quergang der 3. Seillänge (Danke Richi für das typähnliche Bild)
Seillänge 3 steht an. Das ist nun dieser legendäre Quergang. Ich bin sehr gespannt, was mich erwartet. Richi verschwindet nach wenigen Metern Querung aus meinem Blickfeld. Im gleich bleibenden Rhythmus gebe ich das Seil aus und geniesse den Ausblick ins Mittelland. Dunkle Wolken türmen sich immer höher auf. Das Meeresrauschen der Mittelland-Autobahn ist unüberhörbar. Ein stetes Rauschen, tagein und tagaus. Immerwährend...

Ein Pfiff signalisiert, dass Richi den Standplatz erreicht hat. Sofort mache ich mich bereit und freue mich auf das Klettern. Das Seil vor meinem Bauch spannt sich. Los geht’s. Der Quergang liegt nach einem etwas mutigen Handwechsel nach wenigen Sekunden hinter mir. Jetzt kommt die Schlüsselstelle. Wie klettert sich die? Keine Tickmarks weit und breit. Dann müssen halt wieder die Erfahrung und das Können herhalten. „Aha“ sage ich zu mir, „dort oben ist der Zielgriff“. Das wäre mal geklärt. Nur – wie komme ich dorthin? Ich sehe kleine Griffe und Tritte vor mir und dann plötzlich diesen Henkel! „Wow“ – so eine super Kletterstelle habe ich schon lange nicht mehr gelöst. Der Fels ist herrlich kompakt, Griffe und Tritte wohin das Auge reicht! Sensationell! Aha. Und nun kommt der zweite Quergang wiederum durch bombenfesten Fels. Hei, macht das Spass, diesen Quergang zu klettern. Die Griffe und die Tritte passen perfekt aufeinander. Die Erstbegeher hatten schon ein sehr gutes Näschen für die beste Routenführung am Bränten. Die letzten Meter lassen mich ganz vorsichtig klettern. Im Gegensatz zu den vorherigen Metern, ist die Brüchigkeit des Felsens nun real. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die vielen Bolts zur Absicherung dienen oder ob sie den Fels zusammenhalten sollen. Nun denn – 7 Meter etwas nicht ganz so stabiles Gelände tun dieser fantastischen Linie keinen Abbruch. Über Grasstufen erreichen wir den „Gipfel“ des Bränten. Von ganz oben geniessen wir die Aussicht über das Mittelland, das Meeresrauschen und den Blick auf die mittlerweile dunkelschwarzen Wolken. Wir steigen ab und kaum sind wir bei unseren Rucksäcken, beginnt es auch schon zu regnen. Perfektes Timing.

Dieses war der zweite Streich
Doch der dritte folgt sogleich

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