"Flugroute" am I. Kreuzberg

Von Markus


Meine Mutter selig stammte aus Appenzell Innerrhoden, vom "Bleichewald". Dies ist der Grund, weshalb ich in meinen jungen Jahren sehr oft in Appenzell meine Schulferien verbrachte. Meine Schulkameraden gingen nach Italien oder Spanien ans Meer in die Ferien, ich verbrachte Sommer- wie auch Herbstferien in der Regel in Appenzell. An diese Zeit habe ich viele wirklich wunderschöne und zum Teil auch schwierige Erinnerungen. Seit dieser Zeit weiss ich, was es bedeutet, das Heu einzufahren, die geliebte Kuh zum Metzger zu bringen, die Milch in die Milchhütte zu fahren, Angst vor grossen Muttersauen mit ihren neu geborenen Babys zu haben, jungen Katzenbabys die ersten Lebensstunden zu vereinfachen und so weiter und so fort. Die Arbeit auf dem Bauernhof hat mir immer viel Freude bereitet, konnte ich doch meine Liebe zu den Tieren in einer schönen Umgebung voll ausleben. Manch lustige Geschichte könnte ich hier notieren, eine wunderbare Erinnerung an meine frühe Kindheit. 

Doch neben der Arbeit auf dem Bauernhof, gab es etwas, was mich noch viel mehr faszinierte. Es waren die Berge im Appenzellerland. "Hoher Kasten", "Säntis", "Ebenalp" oder der wunderschöne "Seealpsee" - das waren magische Orte, an denen ich sehr gerne war. Das Besteigen der Berge als kleiner Junge bereitete mir viel Freude. Auch trug ich keinen Schaden davon, als ich sehr prominent einem Absturzopfer, welches beim Abstieg von der "Ebenalp" zum "Seealpsee" strauchelte und anschliessend tot vor mir lag, begegnete. Schon damals wusste ich, dass das Leben und das Wandern in den Bergen nicht immer ganz einfach sind. Und über allen Bergen thronten die sagenumwobenen Kreuzberge. Steil, gefährlich, herausfordernd, schwierig zu erreichen und nur die wirklich Allerbesten können auf diese Berge steigen.


Roland S. und ich waren etwa 16 Jahre alt, als wir den Entscheid fassten, mit unseren Töffli (Marken: Ciao in oranger Farbe und Condor-Puch in blauer Farbe) von Riehen nach Appenzell zu fahren, um tags darauf zur "Bollenwees" zu laufen, um dort zu übernachten. Am nächsten Tag kletterten wir durch die "Hundstein"-Südwand. Allein diese Story füllt ein ganzes Buch. Das war meine letzte Kletter-Aktion im Alpstein. Doch ich fühlte tief in mir drin, dass ich irgendwann zur richtigen Zeit mit dem richtigen Kletterpartner bei bestem Wetter an den Kreuzbergen sein werde, um meine Traum-Route klettern zu können. Es sollten 42 Jahre durchs Land ziehen, bis dies Wirklichkeit werden sollte.

Der Traum hat einen Routen-Namen: "Flugroute". Die "Flugroute" galt in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts als eine der schwierigsten Klettereien in der Schweiz. Die Zeiten ändern sich, doch V+ bleibt einfach schwer - auch heute noch. Furchteinflössend waren die Geschichten von diesem Quergang gleich zu Beginn der Route. Bewertet war die Route mit V+ bis VI-, wobei seinerzeit VI das absolute Maximum des Möglichen beim Klettern darstellte. Heute gilt die Bewertung mit 6a.

Es sollte ein 1-Tages-Trip werden, denn ich bevorzuge es, ein solches Unternehmen an einem Tag abzuhandeln. In diesem Fall bedeutet das:
  1. Mit dem Auto nach Brülisau an die Talstation der Kastenbahn fahren
  2. Mit der Seilbahn auf den "Hohen Kasten" zu fahren
  3. Auf Schusters Rappen zur Stauberen
  4. Von dort weiter via Saxerlücke zum I. Kreuzberg
  5. Die "Flugroute" klettern
  6. Abstieg vom Gipfel des I. Kreuzberg
  7. Vom I. Kreuzberg via Saxerlücke zur Bollenwees
  8. Von dort weiter zum Plattenbödeli
  9. Durch das ultrasteile Brüeltobel zurück zum Auto
  10. Mit dem Auto zurück nach Hause
Da ist Engagement gefragt! Ich kenne nur 1 Person, die eine solche Tortur auf sich nimmt und alles unter "Training" abbucht - Richi.


Samstag, 29. Juni 2019. Wir treffen uns um 7 Uhr beim B2 und fahren sofort los. Wie immer vergeht die Zeit im Flug. Mit der 09:45 Gondel fahren wir auf den "Hohen Kasten". Die Aussicht ist traumhaft, das Wetter perfekt, die Temperatur im Schatten angenehm kühl. Der Wetterdienst hat einen heissen Sommertag angekündigt. Wir marschieren los in Richtung "Stauberen". Nach 1 1/2 Stunden gönnen wir uns eine kurze Rast im wunderschönen Berggasthaus. Weiter geht es in Richtung "Saxerlücke". Meter um Meter spulen wir in einem guten Tempo die Strecke ab. Wir sehen die Kreuzberge in ihrer vollen Pracht, einzigartig schön. Weiter geht es zum Einstieg. Nach rund 3 Stunden Anmarsch sind wir endlich am Ziel, im kühlen Schatten einer Nordwand.

Der Konditionstest ist bis jetzt gut verlaufen, jetzt ist das Klettern an der Reihe. Richi steigt vor, er kennt den Weg bestens. Er wiederholt die Route nach Dutzenden von Jahren wieder. Und dann sehe ich ihn - diesen gefürchteten Quergang. Sofort wird mir klar, weshalb sicher immer intensiv über diese Stelle gesprochen wird. Als Seilzweiter ist diese Seillänge eine echte Herausforderung, ich gebe alles und bin sehr froh, als ich bei Richi am Stand angelangt bin.

Die Schlüsselstelle liegt nun hinter uns und vor uns eine genussvolle Tour. Ich geniesse das Höhersteigen und geniesse die mit jeder Seillänge grössere Höhe. Das ist Klettern der Extraklasse und ich möchte noch viele hundert Meter so weiterklettern, doch langsam werde auch ich trotz aller Freude und Aufregung etwas müde. Auf dem Gipfel angekommen, kann ich mein Glück kaum fassen. Doch ich weiss auch, dass dieser "Gipfelsieg" erst die Mitte des ganzen Tuns an diesem Tag ist. Der Abstieg vom I. Kreuzberg fordert noch einmal vollste Konzentration und ist nicht einfach! In der Zwischenzeit glüht auch die Sonne unerbittlich vom Himmel und selbst die Nordwand steht nun im heissen Sonnenlicht. 


Wieder am Einstieg angekommen, essen und trinken wir kurz etwas und weiter geht es auf die Heimreise. Wir marschieren zur Saxerlücke, weiter Richtung Bollenwees. Im Gasthaus Plattebödeli essen wir ein feines Abendessen, bevor es das fürchterlich steile "Brüeltobel" hinuntergeht. Frisch gestärkt und etwas ausgeruht machen wir uns auf dem Weg zum Auto bei der Talstation der Bergbahn "Hoher Kasten". Die anschliessende Heimfahrt zurück ist einmal mehr sehr kurzweilig. Kurz nach 21 Uhr bin ich zu Hause und vor lauter Aufregung über das Erlebte an diesem Tag total aufgedreht.


Ein lang gehegter Traum wurde nach vielen Jahren wahr. Ich kann die Route wärmstens empfehlen. Und wer weiss - vielleicht gelingt mir noch eine zweite Route in den Kreuzbergen. Dann allerdings wohl nicht mehr als One-Day-Trip.


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