Der Geschichtenerzähler - Teil 1

von Markus

Es ist der 29. September 2010 um 17:15 Uhr. Wir sehen, dass sich die Regenwolken im Elsass schön säuberlich aufgereiht haben und auf ihren Einsatz warten. Wir sind etwas in Eile, denn wir wissen, dass es bereits um 20 Uhr zappenduster ist. Ich frage mich seit Wochen: "Welche Route möchte ich am Gempen projektieren?" Für mich ausser Frage stehen die Routen an der Sandührli-Wand, allen voran das "Negligé". Weshalb? Ich konnte vor vielen Jahren nicht mal die ersten 10 Zentimeter klettern, viel zu schwer.

Wir stehen unterhalb der Sandührli-Wand und Dominic fragt mich, welche Route ich denn gerne klettern möchte. In meinem Kopf geht's natürlich sofort los und so antworte ich wie aus der Pistole geschossen: "Nicht das Negligé. Da komme ich sowieso nie hoch, totale Gurk-Route." 30 Sekunden später hängen die ersten Express in der "Negligé". Dominic klettert in ungeahnter Geschwindigkeit die Route hoch. Ich erkenne nicht, wann die Route leicht und wann sie schwer ist. Es ist fantastisch, ihn beim Klettern beobachten zu können, alles im dunkelgrünen Bereich! Nach ein paar wenigen Minuten hat er das Top erreicht. Nun bin ich an der Reihe, ich freue mich sehr. Seil einbinden, Schuhe anziehen, Chalk-Bag richtig positionieren und ab geht’s. Und wie es so ist, geht natürlich überhaupt nichts. Ich bekomme den Fuss keine 3 Zentimeter vom Boden weg. Ich hab‘s ja gewusst, es ist eine völlige Murks-Route. Der Geschichtenerzähler im Kopf ist voll in Fahrt. Er erfindet mindestens tausend Gründe, weshalb ich diese Route nie klettern soll. Sofort ist klar: Das Ganze halt, Übung abbrechen! Sorge bereitet mir eigentlich nur der Umstand, wie die Express wieder aus der Route kommen. Der Geschichtenerzähler weiss auch hier sofort die Antwort. Die Sache ist abgehakt, der Geschichtenerzähler hat gewonnen. Ein weiterer klarer Sieg für ihn, den grossen Meister in meinem Kopf!

Es ist die ruhige und äusserst zuvorkommende Art von Dominic, die mich den Einstieg immer und immer wieder versuchen lässt. Und plötzlich geht der Zug, eine grosse Freude kommt in mir auf. Ich klettere weiter, nicht ohne mindestens hundert Mal "Block" gerufen zu haben. Der erste Top-Rope Durchgang lässt die erste grosse Furcht vor dem „Negligé“ vergessen. Beim zweiten Top-Rope Durchgang gelingt mir sogar der Einstieg im zweiten Versuch. Für die obere Schlüsselstelle finde ich eine für mich passende Lösung. Nach dem dritten Durchgang weiss ich: eine begeisternde und wunderschöne Route, bestens abgesichert, ein lohnendes Projekt.

Ich bleibe dran, am „Negligé“ und vielleicht klappt sie ja noch vor dem ersten grossen Schnee. Üben muss ich schon noch in der Route, aber sie ist nicht mehr unmöglich!

Stay tuned.

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