Reisefieber

von Markus

Meine Kollegen und ich sitzen in einem fast vollständig abgedunkelten Büro und testen Software. Eine etwas trostlose Arbeit, aber sie muss halt auch gemacht werden. Ich weiss, dass draussen die Sonne von einem wolkenlosen Himmel lacht. Eigentlich müsste ich doch jetzt hoch in den Bergen am Klettern sein. Zum Beispiel am Hintisberg…

Es ist Donnerstag, der 11. August 2011, 6 Uhr morgens. Bereits 2 Minuten vor dem Klingeln des Weckers bin ich wach. Das Abenteuer ruft! Heute gehe ich nach vielen Monaten wieder an den Hintisberg klettern. Hintisberg – das ist diese fantastische Kletterei in einmaliger Ambiance, schon ganz nah bei den weissen Wolken. Ein unbeschreiblich schöner Ausblick auf die Berner Eisriesen begleitet den Kletterer während des Aufstiegs. 2009 lernte ich den Hintisberg kennen und verliebte mich augenblicklich in diesen einzigartigen Ort. Leider konnte ich damals wegen einer heranziehenden Sturmfront keine Route klettern. 2010 das erste Highlight mit der Begehung der Route „Schöne Aussichten“ zusammen mit Markus. Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag. Wir kletterten bei schönstem Wetter in traumhaftem Fels, während eine dicke und zähe Nebeldecke fast die ganze Schweiz buchstäblich zudeckte.


Um 8:15 treffe ich Heike in Härkingen und geschätzte 20 tausendstel Sekunden später fahren wir Richtung Grindelwald. Die Fahrt geht flott voran und wir sind uns sicher, dass das Wetter den ganzen Tag perfekt sein wird. Wir werden somit in aller Ruhe und Gemütlichkeit die Route „Reisefieber“ klettern können. Bald schon lösen wir die Taxe hoch zur Alp Hintisberg im Restaurant Stalden und mein untermotorisiertes Auto muss sich in 30 Minuten rund 1000 Meter in die Höhe kämpfen. Auf dem Parkplatz angekommen sehen wir, dass nur sehr wenige Kletterer diesen wunderschönen Tag für einen Trip an den Hintisberg ausgesucht haben. Wir packen unsere Rucksäcke und nehmen den 30 minütigen Aufstieg in Angriff. Die Sonne brennt vom Himmel und mir dämmert es, dass es ein ganz heisser Tag am Fels werden könnte. Die gegen Süden ausgerichtete Wand wird wohl zum Grillplatz werden. Daran habe ich bei der Routenauswahl nicht gedacht. On verra, sage ich mir und gehe weiter. Bald sind wir beim Einstieg der Route angelangt und endlich kommt ein kühlender Wind auf. Trotzdem, es ist unheimlich warm. Wenige Minuten später sind wir für den Einstieg bereit, alles ist perfekt, alles stimmt.

Die erste Seillänge (5a) ist für Heike genau das Richtige, ein perfekter Warm-up. Seit Jahren umgeht sie fast schon konsequent Mehrseillängen-Routen. Sie ist, ich kann es sehr gut nachvollziehen, von einer schlimmen Mehrseillängen-Tour in nicht ganz immer festem Fels traumatisiert. Wie ich es aber geschafft habe, dass sie mich an diesem Tag an den Hintisberg begleitet, das weiss ich bis heute nicht. Neugier? Vielleicht einfach einmal etwas Neues ausprobieren?

Sicher und routiniert klettert sie bis zum ersten Stand. Die Reihe ist an mir und schon bald spüre ich diesen bombenfesten Kalk in meinen Händen. Bereits nach wenigen Metern des Kletterns fühle ich mich sehr zufrieden. Es ist traumhaft, diese Route klettern zu können. Nach wenigen Minuten stehe ich neben Heike am Standplatz. Ich steige die zweite Seillänge (5b) vor. Diese hat einen kleinen Schönheitsfehler. Viele leider zwingend zu begehende nasse Graspolster säumen den Weg bis zum Standplatz. Aber wer ein Kämpfer ist, dem macht auch das nichts aus.

Seillänge drei (5c) steigt wiederum Heike vor. Ganz locker und ohne jegliche Schwierigkeit erkennen zu lassen klettert sie diese Seillänge. Es scheint, dass ihr das Klettern am Hintisberg sehr viel Spass bereitet. Offenbar fühlt sie sich wohl. Ich bin wieder am scharfen Ende des Seils und darf die sagenhafte vierte Seillänge (5c+) klettern. Sie ist ein wahr gewordener Traum. Wunderbare Moves an besten Griffen und Tritten über rund 30 Meter sind zu bewältigen. Im ersten Augenblick scheint es, dass die Bolts in sportlichen Abständen gesetzt sind. Aber alles löst sich bestens auf. Es ist eine der schönsten Seillängen, die ich je geklettert bin. Allerdings weiss ich zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass es noch eine Steigerung geben wird. Die Sonne lacht vom Himmel, es ist angenehm warm, der Fels hervorragend, die Dohlen im Rücken helfen ein weiteres Mal beim Aufstieg. Ich bin der glücklichste Mensch auf dieser Welt. Heike ist Chefin der fünften Seillänge (5c+). Es ist dies eine ganz spezielle Seillänge. Man klettert ruhig und konzentriert vor sich hin, ergibt sich der Schönheit des Fels um ganz abrupt vor einer absolut senkrechten Wand zu stehen. Der nächste Bolt ist ungefähr 4 Meter entfernt. Wie kommt man dorthin, stellt sich sofort die Frage. Alles sieht so unheimlich glatt und eigentlich unkletterbar aus. Und dann sieht man sie ganz plötzlich, die Querrillen, die Griffe, die Tritte. Eine im ersten Augenblick nicht kletterbar erscheinende Wand wird zum absoluten Hochgenuss - sensationell und leider viel zu kurz. Die Schluss-Seillänge (5c+) darf ich vorsteigen. Im ersten Augenblick stehe ich etwa orientierungslos am Fels, sehe weder Bolt noch Weg, nur eine senkrechte Wand direkt vor mir. „Es wird schon irgendwie gehen“ sage ich und klettere die ersten Meter. Und auf einen Schlag eröffnet sich mir die wohl schönste Seillänge, die ich je in meinem Leben geklettert bin. Ich versuche gar nicht erst, diese Seillänge zu beschreiben. Worte können nicht ausdrücken, was ich beim Klettern in dieser Wand gefühlt habe. Es ist schlicht sensationell! Nach rund 30 Metern komme ich beim Standplatz an und die Endorphine fliessen gleich literweise durch meine Adern. Herrlich, einmalig, super, unbeschreiblich schön, begeisternd sind die Prädikate meinerseits für diese Seillänge! Schnell sichere ich mich selbst und setze mich auf das Bänkli, welches ich noch vom letzten Jahr her kenne. Beim Sichern schweift mein Blick immer und immer wieder hinüber zu Eiger, Mönch und Jungfrau.



Die Aussicht ist grandios und ich kann nicht genug davon bekommen. Die Dohlen fliegen vorbei und beobachten genau, ob es was zu futtern gibt. Sie können es natürlich nicht lassen und zeigen, welch fantastische Flugmanöver sie hinbekommen. So könnte ich stundenlang hier sitzen und den Dohlen bei ihrem Tanz in der Luft zusehen. Schon bald sitzt Heike neben mir auf dem Bänkli und gemeinsam geniessen wir den Ausblick. Heike schiesst Bilder (in diesem Blog verwurstet), wir essen und trinken gemütlich und nach einer langen Pause geht es schweren Herzens wieder hinab zum Wandfuss. Das Abseilen verläuft ohne Probleme. Dass der Fels doch nicht ganz so bombenfest ist, erfahren wir ein paar Minuten später. Eine Seilschaft löst beim Abseilen über „Primavera“ einige Steine aus der Wand. Die verzweifelten Rufe „Stei, Stei, Stei“ hören wir und wenige Sekunden später pfeifen uns faustgrosse Brocken um die Ohren. Das war überhaupt nicht lustig. Sofort schultern wir unsere Rucksäcke und verlassen den Ort der fliegenden Steine. Etwa 30 Minuten später sind wir beim Auto und nochmals 5 Minuten später gönnen wir uns eine gute z’Vieri-Platte auf der Alp Hintisberg. Ein wunderschöner Klettertag geht zu Ende. Es ist ein Tag, den ich nie mehr vergessen werde und ich freue mich jetzt schon auf den Moment in 20 Jahren, wenn ich von diesem wunderschönen Tag in meinem Leben erzählen kann. Dir Heike möchte ich an dieser Stelle von ganzem Herzen ein dickes „Danke für alles“ senden. Es war nicht selbstverständlich, dass du mich durch diese Wand begleitetet hast und ich hoffe, es war nicht unsere letzte gemeinsame Mehrseillängen-Tour.

Reisefieber. Der Routennamen trifft genau auf meinen aktuellen Gemütszustand zu. Ja, das Reisefieber hat mich einmal mehr gepackt. Im November/Dezember 2010 bereiste ich Südafrika. In der Osterwoche dieses Jahres besuchte ich den Libanon und lernte eine neue Kultur kennen. Die pure Lebenslust und Lebenskraft habe ich in Beirut kennen gelernt, das pulsierende Leben. Es ist die Freude leben zu können und die Freude, dass es ein Morgen gibt. Die wenigen Tage waren viel zu kurz um dieses fantastische Land kennenzulernen.

In wenigen Wochen geht es los. Es wird eine interessante und auch abenteuerliche Reise werden. Das Ziel heisst Tibet - mein „Reisefieber“.

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