Dornröschen


von Markus

Jeder kennt die Geschichte von Dornröschen von den Gebrüdern Grimm. Allen ist klar, wie lange der Schlaf der Prinzessin dauerte. Für alle anderen – er ging 100 Jahre und nach dieser Zeit verwandelte sich die undurchdringliche Dornenhecke in Rosen. Soviel zur Allgemeinbildung und nun geht es im Text weiter mit einer soeben im realen Leben erlebten Geschichte.

Im Herbst 1999 fing ich, so sollte in der Zwischenzeit allen hinlänglich bekannt sein, wieder mit dem Klettern an. Stolze 96 Kilo brachte ich auf die Waage. Mein erster Tag im Hallentraining endete bereits nach rund 15 Minuten, als ich mir das Band des rechten Ringfingers riss. Seither weiss ich, dass die Taperei eigentlich mehr Selbstbetrug ist, denn es wirklich hilft. Erst nach rund 6 Monaten konnte ich wieder schmerzfrei klettern. Was ein guter Jura-Saurier werden will, der klettert natürlich auch mit Schmerzen in den Gelenken, Bändern und Muskeln. No Pain - No Gain. Aber so richtig erfüllend ist das denn schon nicht. 

Der Einstieg ist geschafft
Ich erinnere mich nur noch schwach an den Tag, als ich zum ersten Mal an die Schauenburg zum Klettern hoch lief. Gemäss der einschlägigen Kletterliteratur soll es hier viele schöne Routen im unteren Bereich geben. Ich wusste seinerzeit noch nicht, was der „untere Bereich“ sein soll. Der sogenannte „untere Bereich“ ist noch heute für mich der „obere Bereich“.

Die erste Route war der "Tempelriss". Ich blieb mitten drin stecken. Es ging weder hoch noch runter. Gleich links neben dem "Tempelriss" gibt es auch schöne Routen im „unteren Bereich“, „Go-Golina“ und noch etwas weiter links „Dornröschen“. Nach wenigen Minuten hingen die Express in „Go-Golina“. Ich kam nicht mal bis zum zweiten Bolt. „Dornröschen“ sei leichter als „Go-Golina“ hiess es. Zack – schon hingen die Express in der Route. Ich kletterte bis zum dritten Bolt. Ich war stolz auf mich. Und ich verliebte mich ins „Dornröschen“.

Ich realisierte, dass es so nicht weiter ging. Wenn ich etwas im „unteren Bereich“ klettern möchte, dann muss ich schlicht und einfach besser werden. Im Herbst 2000 bat ich meinen Klettergott Dominik Egloff um substanzielle Unterstützung. Das hat gewirkt. Seine Trainingspläne sind spitzenmässig und sie haben tatsächlich gefruchtet. Bald lief ich wieder hoch zur Schauenburg und versuchte den Tempelriss. Ich blieb wieder stecken. „Go-Golina“ liessen wir aus, das Ziel hiess natürlich „Dornröschen“. Ich kam dieses Mal bis zum zweiten Haken. Das war der Moment, in dem ich alle meine Finger an der Spindel gestochen hatte. Die Route "Dornröschen" fiel bei mir in den hundertjährigen Schlaf und war mit einer undurchdringlichen Dornenhecke versehen. 
Kampf an der Schlüsselstelle

Jahre später gingen Simon und ich wieder an die Schauenburg. Simon meinte, es habe viele schöne Routen im „unteren Bereich“ an der Schaue. In der Zwischenzeit wusste ich ziemlich genau, was ein 8b+-Kletterer unter „unterem Bereich“ verstand. Zusammen mit Simon hatte ich eine gute Zeit an der Schaue. Ich kletterte den "Tempelriss" und blieb einmal mehr stecken. Simon klettere anschliessend locker und flockig "Dornröschen" hoch und ich durfte mich wieder in der Route versuchen. Das in der Zwischenzeit langjährige Training hat sich ausbezahlt. Ich komme bis zum dritten Bolt. Die Schlüsselstelle kann ich nicht klettern, keine Ahnung wie das gehen soll. Irgendwie schaffe ich es dann doch über die Schlüsselstelle und anschliessend mit viel tatkräftiger Unterstützung von Simon sogar bis ganz nach oben zu kommen. Sensationell. Habe ich die Dornenhecke schon hinter mir und blühen bereits die Rosen? Ich kann es noch nicht beantworten. Der zweite Durchgang zeigt mir dann aber klar, dass die Rosen blühen. Sensationell. Ich bin glücklich und will am Projekt dranbleiben.
Mitten in der Route

Mehr als 3 Jahre später stehe ich 2012 wieder unter der Route und bin hochmotiviert und schwer in die Route verliebt. Ich will da hoch und ich komme die Route auch hoch. Garantiert. Ich übe in der Route und tatsächlich, ich werde immer besser. Die Lösung für die Schlüsselstelle ist atemberaubend – für mich und für den, der sichert. Der Sichernde muss immer mit der Angst leben, dass 94 Kilo Lebendgewicht unkontrolliert den Weg der Schwerkraft gehen. Zudem machen mir die Bolt-Abstände Sorgen. Speziell der 4. Bolt an der Schlüsselstelle und der Bohrhaken ganz oben vor dem Umlenker bereiten mir grosse Sorgen. Der einfache Weg wäre nun, wieder die Dornenhecke wachsen zu lassen. Aber die Rosen sind viel schöner und so bleibe ich an diesem für mich im „oberen Bereich“-Projekt dran. An Karfreitag 2013 finde ich eine gute Lösung für die Schlüsselstelle. Anschliessend holen wir das Material bei dichtem Schneetreiben wieder aus der Wand.
 
Für den 6. Juli 2013 ist schönes und sehr warmes Wetter angesagt. Die Kombination Wärme + Klettern im Basler Jura, dies hat noch nie gut funktioniert. Wir entscheiden uns trotzdem für die Schauenburg und stehen bereits am frühen Nachmittag unter der Route. Die Sonne hat den Fels schon sehr gut vorgewärmt und bis die Express in den Haken hängen, fliesst so mancher Tropfen Schweiss. Roland bouldert die Route aus, Jürgen kommt hinzu. Eigentlich fühle ich mich hundemüde und trotzdem lasse ich mich von Jürgen dazu überreden, die Angensteiner Verschneidung im Nachstieg zu klettern. Nach einer guten Pause bin ich mit Ausbouldern von „Dornröschen“ an der Reihe. Die an Karfreitag gefundene Lösung passt, aber es ist alles nicht so recht stabil. Einmal mehr hilft mir Jürgen und dirigiert mich zu den richtigen Griffen und Tritten. 
Der beste No-Hand-Rest

Ich klettere die Schlüsselstelle dreimal fehler- und damit sturzfrei. Endlich ist der Durchbruch geschafft. Die Dornenhecke ist definitiv weg, die Rosen blühen in voller Pracht. Nach einer guten Pause stehe ich vor einer ganz schwierigen Entscheidung. Ich fühle mich völlig kraftlos und bin es auch tatsächlich. Soll ich nun ein Top-Rope-Durchgang absolvieren oder einen Vorstieg versuchen? Wieder hilft mir Jürgen und meint, dass ich mich in der Route nur noch verbessern könne, wenn ich in den Vorstieg gehe. Die Worte hallen lange nach und dann gebe ich Jürgen recht. Probieren geht über Studieren. Über mich selbst erstaunt, ziehe ich das Seil ab, einmal mehr sind Fakten geschaffen.

Es passt alles perfekt. Die Schlüsselstelle kann ich problemlos klettern, die Hakenabstände irritieren mich überhaupt nicht und selbst ganz oben, 2 Meter vor dem Umlenker werde ich nicht nervös. Das herrliche Gefühl des erfolgreichen Durchstiegs durchströmt mich. 
Der Kampf ist bald zu Ende...

An dieser Stelle möchte ich mich bei all meinen Supportern herzlich bedanken. Jürgen, für seine unermüdliche Art mich zu motivieren, Roland für die perfekten Bilder und die unendliche Geduld beim Sichern und natürlich Heike und Andrea, welche mich immer wieder motiviert haben in die Route einzusteigen. Ein 13-jähriger Sack ist weg, endlich!
Aber es hängen noch unheimlich viele Säcke in der Schaue...

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