von Chris
St. Lèger ist ein besonderer Ort – ein Kraftort. Nicht
weil die Powerrouten dort Kraft ziehen. Nein, weil es ein Ort ist, der
besondere Kraft spendet. Den etwas Eigenes umgibt, wie eine Aura. Es sind dies
die Stille, die besondere Topografie mit dem Gefälle vom Gipfel des Mont
Ventoux bis hinab in das Wasser des Toulerenc, ein Fluss, der sich dramatisch
durch das Tal mäandert. Doch das Tal wirkt nicht eng, der Blick gleitet in die
Weite. Man sieht kaum ein Haus, nur das kleine Dörfchen mit dem gleichlautenden
Namen. Es gibt keinen Strassenlärm. Stille und Kraft – zwei Komponenten, die
zusammengehören. Dies ist zumindest die Erfahrung, die sich machen lässt, wenn
man den Luxus hat, nicht gerade an Feiertagen wie Ostern oder Pfingsten oder an
einem sonnigen Wochenende im Frühling oder Herbst unterwegs sein zu müssen. Es
kann voll werden.
St. Lèger du Ventoux |
Doch selbst dann verteilt sich die Menge über die
unglaubliche Anzahl Climbs. Ein Run wie in anderen Modegebieten findet nicht
(mehr) statt. Eigentlich kann man sagen, dass St. Lèger mehr oder weniger out
ist. Das mag mehrere Gründe haben. Vielleicht, weil in den unteren Graden der
Fels nicht immer der Beste ist. Vielleicht, weil gerade in den oberen Graden
die Bewertung oft sehr streng ist. Vielleicht, weil die Runouts gelegentlich
recht weit sind. Vielleicht, weil es keine 9a's gibt. Das Gebiet hat also ein
bisschen noch etwas vom Feeling wie in den achtziger und neunziger Jahren.
Genau richtig für Jurasaurier… da fühlen sie sich wohl. Sie erkennen sich
wieder in den in die Jahre gekommenen Routen und Bolts.
Josép in Abregenief 8b |
Immerhin sind doch gewisse Bemühungen auszumachen, dem
Gebiet neues Leben einzuhauchen. So blitzen in manchen Climbs neue Bolts und
insbesondere ein Grüppchen aus Grenoble um Antonin, Guillaume und Quentin haben
sich aufgemacht, zwischen den bestehenden Klassikern richtig gute neue Linien
zu finden oder Extensions einzurichten. Quentin zeigt mir mit einem Leuchten in
seinen Augen, welche der neuen Projekte schöne Träume im neunten Grad bilden...
Das sieht kleingriffig aus! Als Jurasaurier bin ich schwer beeindruckt.
Beeindruckt war ich aber schon vor diesen Projekten allein von den klassischen
Linien in St. Lèger. Manche haben eine richtige Strahlkraft. Edle Sinter in
bestem Fels schlängeln sich durch wunderbare Überhänge und zeichnen die Linien
vor. Die Face Est hat eine magische Anziehungskraft. Wuchtig und einladend
zugleich. Aber es sieht auch immer wahnsinnig schwer aus. Die einfachste Linie wird
durch eine wunderschöne Verschneidung vorgezeichnet. Diese teilt die Face Est
in zwei Hälften. 'Dis moi qui tu hais et je te dirai qui tu suis 8a' sollte
lange Zeit meine einzige erfolgreiche Annäherung an diese Wand bleiben. Jedes
Mal, seit ich 2005 das Gebiet besuche, blieben meine Augen an dem Überhang
rechts von 'Dis moi…' hängen. Die Mittelachse dieses Überhangs bildet eine
traumhafte Linie, welche den sonderbaren Namen 'Abregenief' trägt. Eigentlich
müsste es korrekt geschrieben 'Abrégé, Nief!' heissen. Die beiden ersten und
wohlbekannten Erschliesser des Gebietes, Bruno Clement und Thierry Nief,
lieferten sich über die Routennamen einen kleinen Schlagabtausch. So
reagiert 'Abregenief' auf 'Le mari de la baleine' oder 'Clement, comme il
respire' auf 'Thierry golé comme une baleine'… Unschwer zu erkennen, wer welche Routen einbohrte!
Nun aber hat
diese wunderbar zu kletternde 'Abregenief' einen oder besser gleich mehrere
Haken: sie hat über 30 Züge ohne Rastpunkt, ist über 30° steil und im Grad 8b,
der mir für die jeweils kurzen Ferien grundsätzlich zu schwer ist. 2005 und
2009 widmete ich dem Climb jeweils einen Tag und musste ganz klar feststellen,
dass ich darin heillos überfordert war. Zu physisch, zu anstrengend. Die Züge
kamen mir zu boulderig vor. Die Runouts zu fordernd. Das Verdikt war zwar klar
und doch war da jedes Mal, wenn ich unter der Route vorbeilief, das Gefühl,
dass es das doch nicht einfach gewesen sein konnte.
Face Est |
Also, was
tun? Im Juni 2012 kam meine Kletterei für acht Monate zum Erliegen. Doch es war
gut investierte Zeit: die Schulteroperation durch Dr. Christoph Wullschleger
(Crossklinik) und danach die intensive spezifische Physio waren erfolgreich.
Der Wiedereinstieg ins Klettern nach einer so langen Pause und als
Mittvierziger bei mittlerweile sagenhaften 84 kg Brontosaurier-Lebendgewicht
wie erwartet zäh. Doch beschloss ich mir Zeit zu geben und nichts zu forcieren.
So beschäftigte ich mich zuerst mit der Balance der beiden Kraftakte Klettern
und Arbeit – beide zeitintensiv, beide wie diametral entgegengesetzt und dabei
sowohl energieraubend wie auch -spendend. Diese Auseindandersetzung kann ich
mir leisten, habe ich doch die wichtigste Grundvoraussetzung, die es benötigt,
bevor man auch nur einen Gedanken über das Verhältnis von fordernder Arbeit und
Klettern am Limit verschwenden kann: eine wunderbare Beziehung, ein ungetrübtes
Familienleben und zurzeit keine finanziellen Sorgen. Es gibt genügend sportpsychologische
Bücher, deren Inhalt sich mit diese letztgenannten drei Faktoren als
Motivations- und Leistungskiller auseinandersetzt. Dazu muss man kein grosse
Psychologe sein. Da kann man nämlich leicht an sich selbst feststellen…
Der
Turnaround im Klettern deutete sich in Flatanger und dann in der Gorges an. Im
Herbst 2013 war ich soweit mir ein Projekt zu geben, das mehr als nur das
übliche Probieren und Einstudieren der Züge bis hin zum Durchstieg darstellen
sollte. Ein Projekt, über das ich mich an etwas Neues herantasten wollte,
welches mein Klettern verändern sollte. Nach bereits 32 Jahren Klettern eine
neue Stufe des Könnens mit eigener Dynamik zu erreichen. Ein Projekt als
Meditation, um Klettern neu zu begreifen sowie Lehren und Erkenntnisse daraus
zu ziehen. Die Anstrengung des Kletterns in ein gesundes Verhältnis zur
fordernden Arbeit zu stellen. Ich habe erkannt, wie gefährlich es für Geist und
Körper sein kann, sich an einem Projekt unter dem Motto 'Viel hilft viel' und
'Von Nichts kommt nichts' vollkommen aufzureiben.
Face Est |
Als Projekt
fiel die Wahl auf 'Abregenief'. Martina und ich besuchten nach ein paar Jahren endlich
wieder einmal St. Lèger und wir erkannten, wie wohl wir uns dort fühlen. So
nahmen wir uns vor, im Winter und Frühling jeweils ein weiteres Mal das Gebiet
zu besuchen. Ideale Voraussetzung auch, um am Projekt dran bleiben zu können.
Die erste Bouldersession überforderte mich völlig, was nicht überraschend kam.
Es gibt für mich nichts das im Klettern mehr fordern könnte als boulderige
Resistance in übersteilem Gelände... Doch ich lernte, was mir an körperlichen
Voraussetzungen fehlte. Aber vor allem, was ich im Kopf können musste, welche
Konzentration, welche Taktik nötig waren. Die Informationen brachte ich nach
Hause und übertrug sie auf den Plastik des B2. Was ich diesen Winter in der
Boulderhalle alles trieb, mag unbedarften Beobachtern sehr seltsam vorgekommen
sein. Normales Bouldern oder gewöhnliches Trainieren war das nicht. Ich erfand
mir eigene, der Anforderung der Route spezifische Übungen. Meine Philosophie dabei
ist, dass Klettern derart komplex ist, das es keinen Sinn macht nur eine
Einzelkraft zu trainieren. Jede Übung muss hochkomplex in der Bewegung sein.
Der Reiz sollte jede Faser des Körpers in einer spezifischen Bewegung
ansprechen. Und das bei hoher Wiederholungszahl. Resistance zu bekommen war das
erklärte Ziel. Um das Felsgefühl nicht zu verlieren, hatte ich die wundervollen
Projekte in der Gorges… Nach zwei Monaten dieses Geduldspiels (Training ist
nichts anderes…) hörte ich zwei Wochen vor dem Trip nach St. Lèger damit auf,
um Körper und Geist genügend Erholung zu gewähren, auch in der Hoffnung, den
Leistungspeak erst zum Beginn des Trips zu bekommen. Bis dahin boulderte ich
nach Lust und Laune und spürte bereits, dass sich etwas verändert hatte.
Anfang März
fuhren wir nach St. Lèger. Besser sollte ich sagen: Martina fuhr nach St.
Lèger, ich zur 'Abregenief'. Dieser Climb sollte für mich nun so etwas wie eine
Prüfung darstellen. Ich wollte mir aufzeigen, ob ich nach 32 Jahren Klettern
doch noch etwas gelernt habe. Eine Prüfung, um wie im Karate oder Judo die
Stufe des Dan zu erreichen. Über mich richteten keine Jury oder Dan-Meister,
sondern die Schwerkraft. Sie würde mir in der Route Grenzen setzen, falls ich
nicht genügend vorbereitet wäre. Aufgeregt war ich schon. Aber ich wurde
belohnt. Belohnt mit einer der schönsten Powerklettereien, die man sich
vorstellen kann und von der ich einst glaubte, dass diese nur den Mutanten
unter den Kletterern vorbehalten sei.
Abregenief Tiefblick - Traumsinter... |
Ich bin immer
noch kein Mutant, aber ein Jurasaurier, der weiss, dass man Träume verwirklichen
kann, wenn Körper und Geist im Einklang sind. Was nicht ein esoterisches
Gequatsche ist, sondern einfach bedeutet, dass der Wunsch im Geiste durch eine
individuelle, spezifische Vorbereitung des Körpers realisierbar ist. Allgemeine
Trainingslehre und sonstige Konzepte aus der Schublade nützen nichts. Das Wie
ist dabei entscheidend, wie man sich auf etwas einlassen möchte. Und das muss
man ganz für sich selbst und alleine herausfinden. Das Rezept per se gibt es
nicht. Aber das ist ja das Wunderbare dabei, wenn man seinen eigenen Pfad der
Erfahrung geht und Erkenntnisse daraus zieht. Dies zwar stets im Wissen das es
Grenzen gibt, denn es wird nicht unendlich weitergehen. Aber ich habe wieder
einen Zipfel und einen Moment in meinem Kletterleben gepackt, welche mir Türen
öffnete, die ich als mir verschlossen glaubte. Nur weil ich zu bequem war oder
vielleicht zu wenig Vertrauen in mich und die Kunst des Kletterns hatte. Aber es
geht. Es lohnt sich, es auszuprobieren…
Dass der Weg über
'Abregenief' keine Eintagsfliege war, konnte ich mir gleich im Anschluss bei
einem weiteren Kurztrip mit Christoph deutlich machen, als ich in der mir
liebgewonnenen Face Est die benachbarte 'Le Placard' auch noch ziehen konnte.
Was für Hammerclimbs in dieser Wand. Klettern ist wundervoll…
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