Cristallo - OJD und YJD on tour...

Text oben: von Markus; Text unten: von Chris

Markus:

Wohin? Was wollen wir unternehmen? Wann? Das sind die quälenden Fragen am Mittwochnachmittag. Chuenisberg? Geht nicht! Falken? Keine Lust! Alpen? Zu weit weg. Das Wetter? Perfekt für eine Alpentour. Celsius? Zu viele um im Basler Jura zu klettern. Oder doch Alpen? Nein. Alternativen? Hmmm. Träume? Viele! Geheime Projekte? Noch mehr! Abgeschriebene Träume und Projekte? Noch viel mehr. Hmmm. Was machen wir denn nun an diesem Donnerstag? Zusätzliche Einschränkung: 18 Uhr wieder zu Hause. Hmmm. Langsam gehen die Ideen aus. Oder doch Falken? Nein. Das gibt die Idee, im Ausschlussverfahren die Gebietswahl einzuschränken. Basler Jura: eher weniger, da es zu warm wird. Etwas weiter weg? Hmmm. Was gibt es denn da Schlaues? Ach ja. King Way. Das ist so eine Kombination aus Traum und Projekt. La Sensass? Dafür einen Tag aufwenden? Eher weniger. Die Wettervorhersage ist zu gut. Doch eine Tour in den Alpen? Hmmm. Hintisberg? Dort hätte ich noch ein paar Projekte übrig. Das würde gerade so gehen bei all den gegebenen Restriktionen. Früh los, hochtigern zum Einstieg, Klettern und um 15 Uhr wieder nach Hause. Könnte passen. Hintisberg? Hmmm. Eher weniger! 30 Minuten Anmarschzeit, das muss noch reduziert werden. Weiter suchen! Gotthard? Oh! Dort war ich letztes Jahr im „Bijou“ unterwegs und erlebte eine Demütigung der Extraklasse. Trotz deutlich mehr Bohrhaken kam ich in der dritten Seillänge nicht weiter und musste kapitulieren. Ein müdes Hirn mag keine rutschige 6a-Platte 3 Meter über dem letzten Bolt klettern. Das geht einfach nicht. Schöllenen? Ja, das wäre was.

Salbitschijen - Turm II 
Noch mitten in den Überlegungen trifft die Nachricht ein: Cristallo. Yes! Ein 14 Jahre alter Traum soll in Erfüllung gehen. In wenigen Sekunden ist alles geregelt. Am Donnerstag, 26. Juni 2014 morgens um 06:30 treffen wir uns und, wie immer in solchen Momenten, gefühlte 20 tausendstel Sekunden geht die gemeinsame Fahrt weiter. Ziel ist die Route „Cristallo“ am Sandbalm. Der Sandbalm liegt im Voralptal, ein Seitental des wunderschönen Göscheneralp-Tales. Die Fahrt geht flott voran, keine Staus aber auf mindestens 100 Kilometer wegen Baustellen auf 80 km/h beschränkt. Komisch ist, dass auf diesen Baustellen niemand arbeitet. Manchmal wünschte ich mir die chinesische Tüchtigkeit in der Schweiz. 2007 in Tibet erlebte ich, wie dort innerhalb von 2 Wochen 40(!) Kilometer Strasse aus dem Nichts gestampft wurden. Gut, der Vergleich hinkt etwas, aber bezüglich Effizienz im Strassenbau könnte die Schweiz von anderen Ländern durchaus noch etwas lernen. Da besteht noch Potenzial. Oder geht es nur ums Geld?

Wir biegen ins Göscheneralp-Tal ein und erleben was es bedeutet, diese wunderschöne Gegend besuchen zu dürfen. Immer wieder bin ich von der Schweiz und deren Schönheit fasziniert. Prachtvoll leuchten die grünen Wiesen im warmen Sonnenlicht, die Blumen blühen, es ist einfach herrlich. Genuss pur! Kurz darauf parkieren wir das Auto in der Voralp-Kurve, steigen aus und – brrr – geniessen die 12 ½ Grad. Herrliches Wetter lädt zum Klettern ein, keine Wolke weit und breit. Wir haben eine gute Wahl getroffen. 20 Minuten später stehen wir beim Einstieg der Route. Eine Plakette markiert den Einstieg.

Einstieg der Route
Es geht los. Heute habe ich einen absoluten Genusstag vor mir. Der junge Jura-Saurier ist am scharfen Ende des Seiles. Beide Jura-Saurier zusammen im Granit – das hat es noch nie gegeben. Und wie das immer so ist, die ersten Meter – oder besser – Seillängen auf dem Granit lassen einem gestandenen Saurier das Blut in den Adern gefrieren. Trotz guter Absicherung ist es immer ein unsäglich grauenhaftes Gefühl, das Knirschen unter den Schuhsohlen zu hören, wenn der Gummi nicht ganz sauber und/oder der Tritt noch mit einem mikrokleinen Steinchen belegt ist. Da kommt immer leicht Panik auf, denn in solchen Situationen ist der nächste Bolt mindestens unerreichbar weg und die Aussicht auf einen Abgang in den 3 Meter tiefer gelegenen Bolt lässt den Adrenalin-Pegel im Blut deutlich ansteigen. Es sieht so aus, als ob wir die ersten Begeher der Route in diesem Jahr sind. Überall liegt Gras, welches vom Schmelzwasser über die ganze Wand verteilt wurde. Die Tritte, Griffe eher weniger, da es kaum welche hat, müssen aus der Kletterstellung heraus geputzt werden. Wir kommen zügig voran, ich fühle mich pudelwohl. So steigen wir Seillänge um Seillänge höher und sind bald am Ende der 6. Seillänge angelangt. „Cristallo“ wird mit 9 Seillängen angegeben. Bis ins Jahr 2012 waren 6 Seillängen saniert, ab sofort sollten auch die nachfolgenden Längen saniert sein. So ist es auch. Überall glänzen neue rostfreie Bohrhaken. Toll, wir können die 9 Seillängen klettern! Die 7. Seillänge hat es dann in sich. Ich weiss nicht, wie ich ohne Zuhilfenahme der Stoffgriffe je da hochgekommen wäre. Gott sei Dank geht das Seil nach oben und meine vom harten Chuenisberg-Training gestärkten Muskeln bringen mich mit ganz viel Glück und noch mehr Zug aus dieser Zone. Schade ist, dass die Originalroute nicht saniert wurde. Sie wäre viel schöner zu klettern und würde der Route ihre Homogenität lassen. So aber ist es aus meiner Sicht ein etwas unnötiger Hartmacher und jeder der diese 7. Seillänge schafft, ist ein Spitzenkletterer – ob mit oder ohne Zuhilfenahme der Bohrhaken.

Cristallo
Ich hänge am Stand am Ende der 8. Seillänge und schaue mir die Routenführung von Seillänge 9 an. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass das richtig schwer werden wird. Und mit richtig schwer, meine ich richtig schwer. Chris steigt ein und ich kann ein weiteres Mal Kletterkönnen, Klettertechnik und Sicherungstechnik in Perfektion vom sicheren Stand aus geniessen. Phänomenal wie er elegant durch diese als unkletterbar erscheinenden Stellen klettert. Er findet überall Tritte und Griffe und ich präge mir diese so gut wie möglich ein. Ich kann mich während dem Klettern gut an die Lösungsansätze von Chris erinnern, adaptiere sie so gut wie möglich und so wird Seillänge 9 nicht das erwartete Desaster.

Am Ende der 9. Seillänge sehen wir die 10. Seillänge von „Cristallo“. 10. Seillänge? Ja, es stecken Bohrhaken im Fels und wo es Bohrhaken gibt, da gibt es auch einen Weg. Chris klettert auch diese Seillänge fehlerfrei. Sensationell! Am Ende der 10. Seillänge hängt ein grosses Bündel Bohrhaken und 2 weitere Standplatz-Plättchen. Es wird wohl noch eine 11. und 12. Seillänge von „Cristallo“ geben.

Mit unseren 60-Meter Seilen ist die Abseilfahrt über die perfekt eingerichtete Abseilpiste eine wahre Wonne und dank den Seilen können wir 2 Abseilstellen auslassen und so viel Zeit sparen. Am Standplatz harmonieren wir wie ein seit Jahrzehnten eingespieltes Team, obwohl es unsere erste gemeinsame Mehrseillängen-Tour ist. So sind wir sehr effizient und schon bald packen wir die Rucksäcke, steigen zum Auto ab und sind ohne Stau in etwas mehr als 1½h zurück in Basel.

Sandbalm
Heute Freitag sitze ich wieder im Büro und denke mit grosser Wehmut an den gestrigen Tag zurück. Wie wundervoll ruhig war es doch im Tal, kein von Menschen gemachter Lärm und keine Hektik, einfach nur Leben, Fokussierung auf den aktuellen Moment. Keine Gedanken an das was-wäre-wenn und keine Gedanken in die Zukunft oder Vergangenheit. Den Moment des Hier und Jetzt können wir voll geniessen. Während des Höhersteigens begleitet uns das ununterbrochene fröhliche Rauschen des Baches von tief aus dem Tal, Schwalben zeigen uns ihre Flugkünste, wir können uns konzentriert unserer liebsten Tätigkeit widmen. Wir können das Leben in vollen Zügen geniessen und eine wertvolle und unauslöschbare Erinnerung erschaffen. 

Es sind diese Guerilla Nacht- und Nebelaktionen, die ich so unendlich liebe und die meines Erachtens höchsten Erlebnisgehalt bieten. Diese Erlebnisse bleiben definitiv tief im Herzen und im Kopf hängen und bilden die Basis für eine gute Erinnerung. Während ich diese Zeilen schreibe stelle ich mir vor, dass ich - sagen wir mal in 15 Jahren (ich bin dann schon pensioniert und habe viel Zeit) - mich mit Chris am Chuenisberg im November bei kühlen Temperaturen treffe und wir über genau diese Nacht- und Nebelaktion aus dem Nichts unterhalten und uns an die gute, tolle und erlebnisreiche Felsfahrt am Sandbalm erinnern werden. Ja, so könnte vielleicht werden. Und gleichzeitig werden wir eine neue Nacht- und Nebelaktion planen...
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Chris:


OJD ist in Topform. Der Chuenis hat ihm in seinem dritten Frühling derart Flügel verliehen, dass er den Blicken von uns schwerkraftgebundenen Erdenwürmern mit Leichtigkeit entlang den Felsen entschwebt und Projekt um Projekt punktet.
YJD ist verletzt. Er wähnte sich kurz in höchsten Sphären, doch gleich Ikarus im Überschwang zu nah an der Sonne erfolgte der Absturz brutal in Form einer Zerrung im  Caput Longum des Trizeps nach einem Zug zu viel während einer Trainingssession im B2. Eine normale Kletterbewegung, ein Klimmzug – Fehlanzeige! Verdikt Pause und nach Hobby-Kletterdoktor-Anamnese in die sanfte Home-Reha. Dabei hängen doch seine Expressen so schön in einer nächsten Traumroute in Gimmelwald…
Doch OJD und YJD haben schon lange für einen Donnerstag abgemacht. Dieser Tag muss sein, haben sie sich doch schon lange nicht mehr gesehen, da gerade jeder seine eigenen Brötchen am Fels bäckt…


Ja, ich wollte mit Markus etwas unternehmen – trotz Verletzung. Dabei konnte ich mir nicht vorstellen ein attraktiver Kletterpartner zu sein, wenn ich mich am Fels kaum bewegen kann. Also gab ich ihn frei. Doch er beharrte auf dem gemeinsamen Tag. Nach einigem Hin- und Her von ein paar wuchtigen Datenpaketen via einem sozialen Netzwerk entschlossen wir uns zur Tat. Nun denn, was tun? Als Kletterer stelle ich mir immer Wunderheilungen vor – so wie dies echte Gottgesandte durch Handauflegen auf die wunde Stelle an einem kranken Körper tun. 


Heilung durch Handauflegen? Das muss es sein…


Markus in L3
Im flachen Gletscherschliff des Urner Urgesteins ist Klettern nur durch Handauflegen möglich. Ich hasse zwar Reibungsklettern, da mich das Knirschen von Kristallkrümeln, Flechten, Moos und Dreck unter den Schuhsohlen 5 Meter über dem letzten Haken psychisch ziemlich ablöscht. Aber flache Platten fordern keinen Oberarm, also kann dieser abheilen. Nachher tun zwar die Waden weh und das Gefühl wirklich geklettert zu haben, will sich am Abend auch nicht einstellen. Egal! Am Mittwochnachmittag als über Basel ein düppiges und drückend warmes Kleid lag, hatte ich die Vision vom Baden in einem Bergbach. Als Kulisse fällt mir dann immer das Göschenertal ein. Das ist schon schön dort! Und ich war schon sehr lange nicht mehr in den Urner Alpen. Die Wahl fiel auf 'Cristallo', eine Route mit nur 15 Minuten Zustieg und ausserdem mit ein paar sanierten Seillängen, wie ich dem hübschen Blog Rauchquarz entnehmen durfte. Das war interessant, zumal ich vor über 15 Jahren zwei Mal an der Route gescheitert war: einmal wegen ätzender Nässe in den Rissen und auf den Platten sowie ein zweites Mal, als ich mit Schrecken in der vierten Seillängen über verrostete Ringbolts kletterte und den noch schlimmer verrosteten Stand an einem Bolt sah. So mies und im Kopf das Bild von vollkommen durchgerosteten und über die Hälfe weggeätzten Dübeln, welche ich kurz zuvor im Gneis des Schwarzwaldes anlässlich einer Sanierungsaktion gezogen hatte. Diese Bolts in 'Cristallo' waren sogar noch älter. Die 6b-Platte on sight gezogen kletterte ich diese kurzerhand onsight auch wieder ab. Niemals hätte ich an diesen Haken abgeseilt.

Markus in L10

Nun schien der Climb ein ideales Ziel zu sein. Ich wusste von sechs sanierten Seillängen. Eine schnelle Sache dachte ich mir. So ging es zuerst auch. Die ersten Seillängen gelangen mir und Markus zwar mit etwas Anlaufschwierigkeiten - insbesondere mir, da ich Kalküberhänge gewohnt bin - aber trotzdem recht zügig (6b/6a/5c/6b/6a/5c). Etwas lästig nur der Schmutz auf wichtigen Reibungstritten und so manchen Leisten. Im kompletten Vorstieg hatte ich da etwas das Nachsehen, Markus gut gesichert und mit sauberer Route dafür die helle Freude. Unverschämt gleichgültig und mit einem Lächeln im Gesicht tänzelte er über den Gletscherschliff. Schnell und effizient macht er das. Erst gegen Ende der Route erfahre ich, dass er noch nie eine so lange und schwere Multipitch geklettert ist. Chapeau, OJD! 

Doch dann kam sie doch noch, die Genussbremse: die siebte Seillänge. Freundlich lächelte sie mich mit nagelneuen, blitzenden Bolts an. Aha, also auch saniert. Die zweite 6b-Länge laut Topo. Denkste! Da wurde eine neue Seillänge rechts der Originalen kreiert. Für mich als Reibungskletter-Flasche fast ein Hauch zu viel und mit meinem kaputten Arm zu steil. Zwischen zweitem und drittem Bolt auch noch mit richtig anspruchsvoller Kletterei. Rutschen is nich… sonst gibt's einen ziemlichen Sturz in die Verschneidung darunter und dann mit anschliessendem unkontrollierten Pendel. Etwas zögerlich und ängstlich erreichte ich den oberen Teil der Länge und da war es dann geschehen: In so einem Gelände kann ich mich nicht bewegen. Keine Ahnung was ich da machen soll. Bewerten? Für mich unmöglich. Ich musste gar einmal einen Bolt p.a. zu Rate ziehen. Von Homogenität der gesamten Route keine Spur mehr. Reibungsbouldern ist angesagt. 
OJD und YJD on Top

Am Stand angelangt, entdeckte ich die rostbraunen Bolts der Originallänge. Im Toprope nahm ich diese unter die Füsse. Ebenfalls schön mit ganz tollen Felsstrukturen und easy zu klettern! Da gehören auch ein paar Bolts rein! Einfach so als Tipp! Sonst vielen, vielen Dank liebe Sanierer. Ohne euch wären wir heute gar nicht erst oben angekommen und safe wieder abgeseilt! Als jemand der selber gern die Bohrmaschine schwingt, weiss ich nur zu gut um den Einsatz und Aufwand des Einrichtens oder Sanierens... 

Oben gab es noch drei weitere Längen, die vorletzte sogar recht anspruchsvoll. Obwohl nicht schwer, aber mit Stemmkletterei entlang einer spitzen Verschneidung, die man selber absichern muss. Die letzte Seillänge dann ebenfalls neu begradigt. Die dreckige Verschneidung der Originallinie links lässt man da gerne aus. Noch einmal gut 6b und am Ende etwas viel Grün, doch dann der finale Stand mit einem Bündel Bolts, die darauf warten, dass die Linie bis ganz oben an das Ende des Cliffs weitergezogen wird. Also müssen wir dann noch einmal dorthin? Das Kapitel 'Cristallo' ist wohl noch nicht endgültig und möchte offenbar weitergehen…
 

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