The Good, the Bad and the Ugly

von Markus

Verticalsoul präsentiert den Blockbuster: „Zwei glorreiche Halunken an der Schauenburg“

In den Hauptrollen: Roland und Alter Jura-Saurier
Regie: Kalk Fels
Kamera: Nie Mand
Drehbuch: Na Tur

Nachdem mir am bitterkalten Frühlingsanfang der Durchstieg durch die „Via Kathrin“ gelang, fühlte ich mich natürlich wieder so richtig gut. Selbst das Wetter fühlte sich gut und blieb konstant - schlecht. Es klingt ja wie ein Hohn, denn aktuell durchschwitzen wir alle die wohl heisseste Zeit des Jahres mit ungeahnt hohen Temperaturen. Doch im Zeitraum April bis Juni hat es häufig an den für mich so wichtigen Samstagen geregnet. Das schlechte bzw. instabile Wetter hat mir schon einen dicken Strich durch meine Jahresplanung gemacht. Nun denn, es ist halt so und Gott sei Dank kann das Wetter noch nicht gekauft werden.

Nun aber zu den wirklich wichtigen Ereignissen der vergangenen Wochen. Nachdem ich mein Uralt-Projekt geklettert hatte, ging das Spiel „Nach dem Projekt ist vor dem Projekt“ in eine neue Runde. Irgendwie verspürte ich die Lust, es nochmals mit einer 6c zu versuchen. Würde es nochmals  klappen? Hier geht es weiter zum Tagebuch und zur Antwort:


Samstag, 18. April 2015:

Es könnte gehen. Aber es könnte auch nicht gehen. Die Wettervorhersage ist nicht gerade optimal für den Samstag. Es regnet den ganzen Freitag, aber vielleicht hat ja Petrus ein Einsehen? Und – er hat ein Einsehen. Am Samstagmorgen zeigt sich wunderbar blauer Himmel, alles ist trocken. Keine Frage, heute wird geklettert. Schauenburg ist das Ziel, denn die Sonnenstrahlen werden sicher angenehm wärmen. Es wird ein schöner Klettertag werden. Trotzdem nehme ich die dicke Jacke mit – man weiss ja nie.

Einmal mehr marschieren Roland und ich den Weg zur Schauenburg hoch. Der Weg war letztes Jahr definitiv nicht so steil - und auch nicht so lang! Oben angekommen sehen wir, dass der Fels komplett trocken ist. Die Frage stellt sich nun: welches Projekt gehen wir an? Auf meiner S-Liste stehen noch ein paar leichtere Routen, aber ich habe keine Lust, meine Hausaufgaben weiter zu erledigen. Schon in der Schule hatte ich sehr grosse Mühe damit, mich für Hausaufgaben zu motivieren. Das hat sich bis ins heutige hohe Alter nicht verändert.

Letztes Jahr, als ich mich im „Gummiadler“ abmühte, fiel mein Blick immer wieder auf eine fantastische Linie. Die Route heisst „Fehlalarm“. Bei näherer Inspektion sehe ich, dass die Route ganz neu mit Klebehaken saniert wurde. Dann hat es hoffentlich keine Schauen typischen Runouts mehr drin, so hoffe ich. Heute kann ich beruhigt bestätigen, dass es keine Runouts drin hat, aber immer noch zwingend schwere Züge über dem schon etwas leicht entfernten Bolt zu klettern sind. Das ist auch ein Teil des Spiels mit Namen „Sportklettern“.

Ich hänge die Express auf meine ganz eigene Art und damit erfolgversprechende Weise in die Route und einmal mehr sehe ich weder Tritte noch Griffe. Da hat es ja nichts! Wie soll das gehen? Es sind immer die gleichen Fragen zu Beginn eines Projektes. Roland klettert durch die Route und findet hin und wieder etwas, worauf man stehen und was als Griff im entferntesten Sinne definiert werden kann. Meine erste Erkundungsfahrt durch die Route lässt erste ganz grosse Zweifel am Gelingen aufkommen.

Der Wind bläst seit Stunden unerbittlich. Die Bise reinigt zwar den Himmel von lästigen Wolken, doch die Temperatur ist doch etwas sehr tief geraten. Den zweiten Durchgang durch die Route muss ich in der Routenhälfte abbrechen: tiefgefroren.

Aber – die Route gefällt uns. Wir bleiben dran und hoffen, dass wir uns bald wieder mit unserer selbstgestellten Hausaufgabe beschäftigen können. Selbstgestellte Hausaufgaben löse ich von Herzen gern. Für mich besteht die Route im Moment aus einer 32 Meter hohen Schlüsselstelle mit den etwas schwierigeren Stellen mit Namen „The Good“, „The Bad“ and „The Ugly“.


Mittwoch, 22. April

Es herrscht herrlichstes Kletterwetter, beste Bedingungen. Nach einem etwas anstrengenden Morgen mit gefühlt 1‘000 bearbeiteten E-Mails, habe ich nachmittags frei. Es zieht mich an die Schauen, zu meinem Projekt. Andreas begleitet mich dieses Mal. Für mich wird ein Traum wahr. Andreas und ich kennen uns schon sehr viele Jahre. Doch zu einem gemeinsamen Gang an den Fels hat es bis dato nicht gereicht.

Der Weg hoch an die Schauenburg ist immer noch steil und weit. Wir klettern uns im „Efeu-Riss“ ein. Der „Efeu-Riss“ ist eine Hausaufgabe auf der S-Liste und natürlich mental mit dem Prädikat „Unclimbable“ versehen. Andreas hängt mir das Top-Rope in die Route ein. Dann beginnt mein Kampf mit den Elementen. Zu meinem Erstaunen komme ich recht gut mit der Route zurecht und bleibe nicht – wie bisher immer – im Riss stecken. Ich realisiere, dass ich neben meinem Projekt noch zusätzlich eine meiner Hausaufgaben abarbeiten werde können. Hoffentlich, vielleicht. Ich freue mich darauf.

Das Top-Rope hängt nun in „Fehlalarm“. Ich steige ein und adaptiere Andreas Lösungen. Es gelingt mir, den unteren Teil zu optimieren und komme fast schon frisch an meine erste Schlüsselstelle „The Good“. Auch hier adaptiere ich Andreas Lösung, muss aber feststellen, dass ich dafür einfach viel zu schwach bin. An der zweiten Schlüsselstelle, „The Bad“, finde ich nach langem Suchen eine gute Lösung. Versteckte Griffe und Reibungs-Tritte sind der Schlüssel zum Erfolg. Es sollte gehen. Die dritte Schlüsselstelle, „The Ugly“, stellt mich weiterhin vor Rätsel. Ist es wirklich so, dass dieses Ein-Fingerloch der Schlüssel zum Erfolg sein soll?

Der zweite Umgang lässt mich sehr gut bis zu „The Ugly“ gelangen. Die gefundenen Lösungen müssen noch weiter optimiert werden, das ist mir klar. Aber ein ganz neues Phänomen stellt sich ein. Die Füsse schmerzen höllisch. Noch am Tag danach spüre ich die Überlastung des rechten grossen Zeh.

Aber ich bleibe dran – das wird noch was mit dem „Fehlalarm“!


Samstag, 25. April

Auf dem grossen Picknick-Platz entsteht etwas Grosses, etwas ganz Grosses. Wir werden von den Protagonisten des Events für 14 Uhr zum Bier eingeladen. Bei der Route angekommen, lauern neue unbekannte Gefahren. Unmittelbar rechts von „Fehlalarm“ findet eine Abseilübung statt. Wir kommen in den Genuss, interessant grossen Stein-Geschossen aus dem Weg gehen zu dürfen. Um 14 Uhr startet das Notstromaggregat. Die Musik jault auf, laut und nicht speziell interessant. Die fliegenden Steine werden kleiner. Die Konzentration für die Route ist allerdings dahin. Und ob das alles nicht schon gereicht hätte, beginnt es noch zu regnen. Es soll auch schlechte Tage am Fels geben.


Donnerstag, 14. Mai 2015

Herrlichstes Kletterwetter. Roland und ich sind alleine am Fels. Aber es ist auch Auffahrt und das bedeutet, dass auch Banntag im Kanton Basel-Landschaft ist. An diesem Tag wird der Gemeindebann abgeschritten und bei jedem gefundenen Grenzstein ein Böller abgeschossen. Nun, es muss so sein, dass Frenkendorf mehrere hundert dieser Grenzsteine hat. Bis spät nach 17 Uhr wird geböllert, was das Zeug hergibt. Ruhe im Wald geht anders. Oder wollten uns die Banntägler etwa den Fels hochtreiben? Sozusagen Treibjagd mit den „zwei glorreichen Halunken“?

Heute ist Schlüsselstellen-Training angesagt. Ich habe mir geschworen, dass ich den Fels erst dann verlasse, wenn ich die „The Good“ sauber klettern kann. Nach gefühlt 30 Minuten habe ich endlich die auch von alten Jura-Sauriern kletterbare Version entdeckt. Es ist eine kräftige, gute und stabile Lösung – anschliessend bin ich total ko.


Samstag, 16. Mai 2015

Die Muskeln fühlen sich noch etwas gebraucht vom Donnerstag an. Die gefundene Lösung für „The Good“ können wir sehr gut klettern. Deshalb steht heute Schlüsselstellen-Training für „The Bad“ auf dem Programm. Es ist tatsächlich so, dass die Mikroleisten und die kleinen Reibungstritte in der richtigen Reihenfolge abgespult die Lösung für sind. Juhui. Auf geht's zu „The Ugly“. Bei „The Ugly“ findet Roland die Lösung für den legendären Utzinsky-Riss. Eine allerletzte ungewöhnlich schwierige Stelle bleibt am Ende des Risses übrig. Aber wir sind sicher, dass wir auch diese Stelle werden meistern können. Irgendwie wird das sicher gehen. Irgendwie....


Donnerstag, 21. Mai 2015

Heute steht auf dem Tagesbefehl: Angriff. Einmal mehr ist das Wetter sehr instabil und unsicher. Wir sind aber so auf Angriff programmiert, dass wir unbedingt an die Schauen gehen. Allerdings haben wir die Rechnung ohne Petrus gemacht. Der meint nämlich, dass die Natur wieder einmal etwas Regen bräuchte. Er lässt es allerdings erst regnen, nachdem die Express in der Route hängen. Beim Abbau der Route werde ich total nass, Roland erwischt es etwas weniger. Schnell packen wir unsere Rucksäcke und wollen uns von dannen machen, schon lacht die Sonne wieder vom Himmel. Wir entscheiden uns, die Express wieder in die Route zu bringen und weiter nach Optimierungen zu suchen, denn an einen Durchstieg ist jetzt nicht mehr zu denken. Die Route ist im ersten Drittel zu feucht. Wir nutzen die Zeit und finden weitere Optimierungen. Roland und mir gelingt der Durchstieg im Top-Rope - beinahe. Wir haben noch einen Hänger bei „The Ugly“ gleich nach dem Utzinsky-Riss. Irgendwie wird das dann schon gehen.


Pfingst-Samstag, 23. Mai 2015

Das Wetter ist gut, der Tagesbefehl lautet wieder: Angriff. Wir klettern uns seriös in einer leichten Route ein und sind voller Zuversicht. Es liegt an mir, den Reigen der gescheiterten Versuche zu eröffnen. Es gelingt mir, mich gut zu konzentrieren und ich weiss, dass die Stelle kurz vor dem Umlenker schon „irgendwie“ gehen wird. „The Ugly“ wird gehen, das ist klar. Es beginnt gut, ich komme gut voran. „The Good“ geht problemlos. Meine Unterarme sind etwas gepumpt, doch vor „The Bad“ gibt es einen perfekten No-Hand-Rest und ich kann mich sehr gut erholen. „The Good“ liegt hinter mir, vor mir nun „The Bad“. Ich klettere die Stelle ungern. Volle Konzentration, alles läuft perfekt. Ich stehe gut, die Griffe kann ich gut halten und jetzt sollte ich den Bolt klippen. Das geht aber nicht, denn sollte ich nur ein kleines Detail an meiner Kletterstellung ändern, werde ich dem Gesetz der Schwerkraft folgen. Als geübter Kletterer kommt jetzt Plan B zum Zug – Abklettern zum No-Hand-Rest. Noch einmal ruhe ich mich gut aus, überlege mir neue Lösungsmöglichkeiten und starte ein zweites Mal in die Stelle nur um wenige Sekunden später festzustellen, dass ich nun an der Stelle entweder verhungern oder einen Sturz hinlegen kann. Ich entscheide mich gegen das Verhungern und rufe ein angstvolles „Block“ zu Roland. „The Bad“ hat gesiegt, aus der Traum vom Durchstieg. Auch das gehört zum Spiel „Sportklettern“.

Nun ist Roland an der Reihe. Ungeahnt schnell steht er unter „The Good“. Locker klettert er über die Stelle, ein kleiner Verhauer nach rechts und im Spiel steht es 1:1.

Wir müssen nun eine Künstlerpause einlegen, denn Roland fährt für 10 Tage in die Ferien und mich legt hohes Fieber komplett flach. Es dauert rund 2 Wochen bis ich wieder einigermassen fit bin. Zudem ärgert mich seit Monaten ein hartnäckiger Tennis-Ellbogen. Ich dehne und achte auf die richtigen Bewegungen, aber die Schmerzen verschwinden nicht. Beim Klettern spüre ich nichts, doch in der Nacht mache ich kaum ein Auge zu. Wie lange das wohl dauern wird? Noch während ich diese Zeilen schreibe, meldet sich der Arm. Aber ein Indianer kennt keinen Schmerz!

Wird das noch was in diesem Frühjahr mit dem „Fehlalarm“? Langsam aber sicher läuft uns die Zeit davon, denn im Frühsommer kann die Sonne schon intensiv die Felsen bescheinen, was das Klettern schlicht verunmöglicht. Wir müssen uns langsam aber sicher mit dem Gedanken anfreunden, das Projekt auf den Herbst verschieben zu müssen. Das wäre sehr schade, denn die komplexen Bewegungsabläufe müssten wir sicher wieder neu entdecken.


Samstag, 6. Juni 2015:

Es war zu erwarten! Glühende 30 Grad werden gemeldet. Es macht keinen Sinn, einen Angriff zu wagen. Ein Alternativprogramm muss her: Abkühlung im Wasser.


Samstag, 13. Juni 2015:

Wiederum wird es ein heisser Tag werden. Zu heiss zum Klettern? Wir wollen es trotzdem versuchen. Etwas später als gewöhnlich stehen wir unter der Route. Die Sonne brennt erbarmungslos in die Wand. Eigentlich ist es völlig sinnlos auch nur daran zu denken, einen Go zu wagen. Doch der Wunsch die Route klettern zu können treibt uns an. Wir klettern uns einmal mehr seriös in einer leichten Route ein. Wir werden bei lebendigem Leib gebraten. Noch selten haben wir derart geschwitzt. Trotz allem wollen wir es versuchen. Wir müssen uns etwas gedulden, bis die Wand im Schatten liegt.

Heute beginnt  Roland mit dem Reigen der Versuche. Wir haben die Crème de la Crème der Kletterer als Cheerleader engagiert. Die positive Energie können wir förmlich mit Händen greifen. Alles ist perfekt vorbereitet, jedes Staubkorn aus der Route entfernt, die letzten Gräser in der Route mussten auch ihr Leben opfern. Ein Formel 1-Team würde neidisch in unsere Box schauen - alles sauber, proper, clean. Es ist alternativlos: Heute muss es klappen!

Roland schnürt seine Schuhe, setzt den Helm auf und ab geht's. Er spult das einstudierte Programm perfekt ab und steht nach wenigen Minuten unter „The Good“. Locker und flockig klettert er über die Stelle um kurz darauf „The Bad“ ebenfalls problemlos zu meistern. Fehlerfrei und fast schon engelsgleich klettert er weiter zu „The Ugly“. Auch „The Ugly“ klettert er perfekt und meistert die Stelle oberhalb des Utzinsky-Risses „irgendwie“. Ohne nennenswerte Anstrengung ist er durch die Route geflogen und klippt den Umlenker. Wow! Sowas habe ich noch nicht oft gesehen. Herzliche Gratulation zum Durchstieg!

Roland hat perfekt vorgelegt. Nun liegt es an mir nachzuziehen. „The Good“ geht sehr gut. „The Bad“ zeigt mir die Zähne. Ich brauche enorm viel Kraft um einen Fehler zu korrigieren. Zuviel Kraft? Nach „The Bad“ gibt es sehr gute Ruhepunkte, aber wenn die Kraft mal draussen ist, dann ist sie draussen. Etwas ärgerlich ist die Situation und eigentlich könnte ich jetzt auch aufhören, denn es wird nicht mehr für die nächsten Meter reichen. Schade.

Doch die Cheerleader-Truppe motiviert mich und lässt die Hoffnung an mich selber wieder steigen. Sie alle glauben an mich. Ich darf sie jetzt nicht enttäuschen. Roland impft mir Mut ein.

Ich klettere mit ausgepressten Unterarmen weiter und prompt passiert mir der nächste Fehler. Ich gebe nicht auf, kämpfe weiter. An allen möglichen und unmöglichen Stellen versuche ich zu ruhen. Die Entspannung will nicht einkehren. Der Utzinsky-Riss gelingt mir mehr schlecht als recht. Ich keuche und nehme dieses Signal der Überforderung klar und deutlich wahr. „The Ugly“ will mir den Meister zeigen, ich kontere und komme gut an den letzten Aufleger. Reality-Check vor dem letzten Move, vor der Stelle, die dann schon „irgendwie“ geht:

  • Die Unterarme ausgepresst wie eine Zitrone
  • Die Atmung so schnell wie auf einem 8000er ohne Sauerstoff-Gerät
  • Die Oberschenkel brennen
  • Die Zehen schmerzen
  • Die Füsse komplett überlastet

Das ist der Befund meines Körpers. Hoffnungslos. Und trotzdem: Mind over Machine. Ich will es versuchen. Der Umlenker ist zum Greifen nah, fast könnte ich ihn mit den Zähnen fassen. Go!

Den linken Fuss platziere ich am richtigen Ort. Mit der linken Hand erwische ich den richtigen Griff, so auch mit der rechten. Nun den Move einleiten. Der Körper bewegt sich in die vorgesehene Richtung. Ich hebe den rechten Fuss und merke sofort, dass sich die Belastung enorm steigert. Nochmals die Kontrolle, alles ist richtig. Ich spüre, wie die Atmung immer schneller wird. Die Belastung zerrt am ganzen Körper und an den Nerven. Vorsichtig platziere ich den rechten Fuss, erwische den Tritt aber nicht richtig. Sofort ist mir klar, dass ich diesen Fehler nur mit einem enormen Kraftaufwand in den Armen korrigieren kann. Dieser Versuch scheitert allerdings grandios. Der Sturz endet sanft und den Tränen nahe hänge ich im Seil. Der ganze Körper schreit, alles schmerzt. Aber gegen den Schmerz der Enttäuschung ist das alles null und nichts. Roland muntert mich auf und nach 10 Minuten beginne ich wieder zu klettern. Die Stelle, die dann „irgendwie“ schon gehen wird, hat es in sich. Eine komplett neue Sequenz bringt den Schlüssel zum Erfolg. Etwas enttäuscht komme ich wieder am Boden an. Der Plan ist, einen zweiten Go zu wagen. Aber selbst nach über 1 Stunde des Ruhens tun mir noch die Unterarme weh. So entscheide ich mich für einen Top-Rope Umgang und kann meine Problemzone nicht mehr „irgendwie“ klettern, sondern so wie es sich gehört: ohne Murks und kontrolliert

Wir bauen die Route ab, verstauen alles im Rucksack und marschieren zum Auto. Ich freue mich enorm für Roland, dass er die Route in diesem sauberen und überlegenen Stil geschafft hat. Das anschliessende Sieger-Bier bei ihm in der Küche schmeckt trotz meines Misserfolges wirklich gut. Für mich stellt sich nur noch eine Frage: muss ich das Projekt in den Herbst verschieben?


Samstag, 20. Juni 2015:

Aus heutiger Sicht (17. Juli 2015) unglaublich aber wahr: Regen. Die ganze Schauenburg ist pitschnass und Petrus hat kein Einsehen. Enttäuscht keinen Go machen zu können gehe ich ins B2 bouldern. Es wird eine gute Session und nach 2 Stunden guten Trainings mache ich mich auf den Heimweg. Während ich so etwas müde, enttäuscht und verträumt meine Sachen zusammenpacke, kommt Richi auf mich zu. Wir haben uns schon sehr lange nicht mehr gesehen und haben uns viel zu erzählen. Wir reden und reden und Richi erzählt mir von seinen Abenteuern aus frühen Jahren. Es ist so spannend und interessant was er erzählt, sodass ich die Zeit vergesse. Richi erzählt von Dingen, die er in den Dolomiten gemacht hat. Er erzählt von den Anfängen des Sportkletterns. Fasziniert höre ich ihm zu und weiss, dass ich den besten Sport aller Sportarten ausübe: Sportklettern.

Sehr glücklich und sehr zufrieden fahre ich nach Hause und weiss, dass der richtige Zeitpunkt für den Durchstieg ganz von alleine kommen wird.


Samstag, 27. Juni 2015:

Es ist klar, wohin die Reise geht. Es ist klar, was zu erledigen ist.

Ich steige in die Route ein und komme sehr gut zu „The Good“. Nachchalken und ab geht’s – zum ersten Fehler. Gopferdeggel! Ich klettere wieder zurück und überlege mir nochmals die Sequenz. Alles klar – Go! „The Good“ geht nun und ich stehe wenig später unter „The Bad“. No-Hand-Rest. Sequenz  abrufen, alles durchchecken – Go! „The Bad“ liegt hinter mir. Die Körperkontrolle meint, dass der Motor im grünen Bereich vor sich hinschnurrt. Meine persönliche Schlüsselstelle ist nun an der Reihe. Fehler reiht sich nahtlos an Fehler. Mit ganz viel Krafteinsatz gelingt es mir, den nächsten Bolt zu klippen und klettere wieder zum letzten Ruhepunkt zurück. Psychisch angeschlagen, nutze ich den Rastpunkt intensiv. Ich muss mir etwas einfallen lassen, sonst endet mein heutiger Angriff in einem Desaster. Lange rede ich mit Roland, die Konzentration ist weg und ich frage mich, was ich denn hier oben soll. Ich erlebe eine Motivationskrise mitten in der Route. So etwas habe ich nun auch noch nie erlebt. Irgendwie fühle ich mich, als ob ich nach „The Bad“ ins Tal der Gleichgültigkeit abgebogen bin und mich dort pudelwohl fühle. Es gibt keinen Grund, diesen Ort zu verlassen. Es ist herrlich hier.

Nach mehreren Minuten an der gleichen Stelle stehend melden sich ungerecht intensiv die Zehen. Sie erinnern mich daran, dass das Tal der Gleichgültigkeit in den nächsten Sekunden zu verlassen ist. Die Zehen meinen ultimativ, es ist Zeit aufzubrechen. Nur – wie kann ich mich motivieren? Die Gleichgültigkeit hat mich voll in ihrem Würgegriff. Die Zehen rufen: „Aufbruch“. Das Hirn sagt: „Block. Route abbauen und auf den Scheiterhaufen der gescheiterten Projekte werfen. Ist doch alles egal!“

Aus dem tiefen Dunkel meines Hirns dringt plötzlich ein unüberhörbarer Lärm in mein Bewusstsein. Es ist es extrem laut und schrill. Sofort erkenne ich, worum es sich handelt. Dieses Mal ist es nicht Ronnie James Dio, dieses Mal ist es Rob Halford von Judas Priest mit seiner gewöhnungsbedürftigen Stimme.  Es ist diese eine Strophe aus dem Song Metal Meltdown vom Album „Painkiller“, die mich aus der Gleichgültigkeit herausholt.

Raging fury
Wired for sound
Nitro bombshell
Shakes the ground

High and mighty
Rips the air
Piercing lazer
Burning glaze

Out of control
About to explode
It's coming at ya

Die Konzentration ist wieder da. 

Körper und Reality-Check: 

  • Unterame: platt wie eine Flunder und ausgepresst wie eine Zitrone
  • Zehen: am obersten Punkt der Quälskala angekommen. 10 von 10 möglichen Schmerzpunkten

Es gibt keinen Weg zurück, ich muss aus dem Tal verschwinden, so rasch wie es nur irgendwie geht.

Nitro bombshell
Shakes the ground

Immer und immer wieder rasselt dieser Satz durch mein Hirn, während ich mich mehr sehr schlecht als schlecht durch jeden einzelnen Move quäle. Interessant ist allerdings, dass sich neben dem Heavy-Metal von Judas Priest im gleichen Augenblick auch der Refrain von „Autobahn“ von „Kraftwerk“ abspielt. "Wir fahr'n fahr'n fahr'n auf der Autobahn." Drehe ich nun durch oder spinne ich bereits?

Nun stehe ich am unteren Ende des Utzinsky-Risses. Alles schmerzt.

Nitro bombshell
Shakes the ground
High and mighty
Rips the air

...immer und immer wieder! Irgendwie schaffe ich den Riss und stehe vor der Stelle, die „schon irgendwie“ geht.

Nitro bombshell
Shakes the ground
High and mighty
Rips the air

Voller Körpereinsatz!!
Es hämmert und dröhnt. So muss es in einem Stahlwerk ohne Kopfhörer klingen. Ich leite die einstudierte Sequenz ein. Aber bereits der erste Teil stimmt nicht. Alles ist schief, alles ist falsch. Aber ich weiss, dass ich die Stelle klettern kann. Ich klettere die Stelle „irgendwie“ und stehe nun 30 Zentimeter unter dem Umlenker. Noch kann ich ihn nicht einhängen. Die Füsse sind in der Zwischenzeit gefühllos. So stehe ich nun auf einem guten Tritt und muss Stück um Stück meines völlig überlasteten Körpers und meiner Psyche auf Normalmass herunterfahren. Roland wird wohl in Schweiss gebadet und froh sein, wenn ich endlich den Umlenker einhänge.

Der Lärm wird leiser. Leben kehrt in die Zehen zurück.

Wenige Sekunden später hänge ich den Umlenker ein. Geschafft! Ich kann es kaum glauben. Die Freude ist riesengross, ich bin unbeschreiblich glücklich.

Die „Zwei glorreichen Halunken“ (so die deutsche Übersetzung des internationalen Filmtitels „The Good, the Bad and the Ugly“) haben beide „Fehlalarm“ geklettert. Ein grosses Abenteuer ist zu einem guten Ende gekommen, gemeinsam haben wir gelitten, gefochten, gekämpft und zum Schluss Erfolg gehabt.

„Fehlalarm“ ist die härteste Route, die ich je geklettert habe. Dies nicht aus der Sicht des Schwierigkeitsgrades, sondern aus der Sicht der mentalen und physischen Anstrengung. Die Schönheit der Route faszinierte mich sehr lange. Der überraschend mühsame Weg zum Erfolg hat mir neue und unbekannte Herausforderungen geschenkt. An diesen Herausforderungen wäre ich beinahe gescheitert.

Es ist wie immer. Alleine hätte ich diese Aufgabe nicht stemmen können. Es brauchte einmal mehr meinen lieben Freund Roland, der mich immer wieder motivierte und mich mit seiner Freude an der Route zu Höchstleistungen motivierte und nicht von diesem Projekt abzubringen war. Das nenne ich Fokussierung auf das Wichtige im Leben. Es brauchte Andreas um mir aufzuzeigen, dass ich eine Chance in der Route habe. Und es brauchte – natürlich – den jungen Jura-Saurier, der mir immer wieder Mut zusprach und an mich glaubte.

Euch allen – herzlichsten Dank, denn ohne die Unterstützung von euch, wäre mir dieses Kunststück nie gelungen.
Und das Spiel „Nach dem Projekt ist vor dem Projekt“ geht in eine neue Runde.

Kommentare

Chris hat gesagt…
Ein sehr epischer Bericht, Markus, wie diesen nur einer schreiben kann, der ganz tief den Prozess eines Kletterprojekts mit allen Höhen und Tiefen durchlebt hat.
Das ist - denke ich - auch die Qualität von verticalsoul, wird in diesem Blog nicht auf die blosse Beschreibung von Routen oder die Beta technischer Kletterstellen abgestellt, sondern ganz allein auf das Erleben durch das Klettern selbst fokussiert und wie dieses im Prozess bis zum realisierten Durchstieg aufgeht...
Das ist doch spannend - und mit deinem Artikel beweist du einmal mehr, dass es nicht auf die Zahl im Topo, aber auf das Reifen des Ichs an der Realität der selbst gewählten und zu lösenden Schwierigkeit ankommt.
Bis hoffentlich bald mal wieder am Fels!