von Markus
Entgegen der ersten
Annahme, ist die Bräune der Unterarme einem satten rot gewichen. Der
Handflächen grosse blaue Fleck auf der linken Fudibacke ist klar und deutlich spürbar. Die Sonne
wärmt auch Tage später noch meinen Nacken. Die Fingerkuppen sind dran.
Definitiv. Denn bei jedem Tippen auf der Tastatur trifft ein kleiner
Schmerzindikator im Hirn ein. Die Zehen – wie nicht anders zu erwarten – auch
die Zehen schmerzen und geben unmissverständlich bekannt, dass ein einzigartig
schönes und wunderbares Wochenende in den Bergen hinter mir liegt.
Vorbereitung und
Anreise
Am Freitagmorgen packe
ich mein Kletterzeug zusammen. Das Auto füllt sich bis unters Dach. Doch bevor
es an den Fels geht, darf ich am Sommer Team-Event unserer Firma teilnehmen.
Pünktlich um 09:45 Uhr treffe ich in Sarnen ein. Es ist kalt, neblig und es
regnet ganz leicht. Doch der Wetterbericht ist einzigartig gut für das
Wochenende. Es wird klappen und ich werde nach 5 Jahren wieder einmal die
Motorräder auf der Grimselpass-Strasse geniessen können. Zu allem Überdruss ist
der Team-Event ein richtig guter Event und ich lerne die Vor- und Nachteile der
agilen Softwareentwicklung kennen. Mit diesem Vorgehen wird auch in der Informatik alles gut. Oder zumindest - anders. Die Wettervorhersage stimmt und um
16:30 Uhr, pünktlich zum Meeting-Ende, lacht die Sonne von einem wolkenlosen
Himmel. Es wird deutlich wärmer. Abends wird uns im Jugendstil-Hotel Paxmontana
in Flüeli-Ranft ein wunderbares mehrgängiges Menü serviert. Mann, geht es mir
gut, alles ist bestens und der Ausblick auf eine tolle Klettertour lässt das
Herz höher schlagen.
Am nächsten Morgen
sitze ich um 9 Uhr (endlich mehr als 6 Stunden Schlaf) am Frühstückstisch und
geniesse den wunderschönen kühlen Morgen. Alle um mich herum bibbern vor lauter
Kälte, ich fühle mich pudelwohl in meinem Biopren-Anzug. Um 09:55 Uhr „sharp“
verabschiede ich mich mit quietschenden Reifen Richtung Grimsel. Ich habe mich
um 11 Uhr zum Kaffee mit Jürgen im Hotel Handeck verabredet. Zusammen planen
wir an diesem Wochenende für uns Grosses zu vollbringen. Vor ein paar Monaten
habe ich das Topo der Route „Schiefer Traum“ an der Spiegelwand am Handeck auf
Filidor gefunden. Saniert sei die Route und toll. Den „Schiefen Traum“ wollte
ich 1980 klettern, kurz nachdem die Route eröffnet wurde. Doch fand ich keinen
Kletterpartner, der dieses ambitionierte Vorhaben mit mir angehen wollte. So
blieb es beim Wollen und jedes Mal, wenn ich an der Handeck unterwegs war,
jedes Mal schaute ich sehnsüchtig die Spiegelwand hoch. Das Alter macht neben
mir auch an den Bohrhaken nicht halt und so wurde aus dem Traum ein ewiger
Traum, ein verpasstes Ziel. Deshalb freute ich mich umso mehr, als ich mit
Jürgen einen mir lieben Freund fand, der mich durch die Linie begleiten wollte.
Der Sonntag sollte der grosse Tag sein!
Doch zunächst geht es
darum, den Samstag optimal zu nutzen. Wir beiden sind noch nie durch die
Handeckverschneidung geklettert und so war sofort klar, dass diese Tour das
Tagesziel sein sollte. Auch mussten wir uns wieder an die Kletterei im Granit
gewöhnen und ganz speziell ich ans Klettern in Mehrseillängen-Routen. Das ist
halt schon anders, als nach einem ultimativen Go in einer harten Route im
Basler Jura mit müden Armen im kühlen Wald zu sitzen und dumme Sprüche zu
klopfen. In einer Mehrseillängen-Route darf die Konzentration nie abreissen,
Körper und Geist sind immer auf „On“. Diese Anspannung braucht viel Energie.
Etwas Sorgen bereitet mir der Umstand, dass die Route vollständig von der Sonne
beschienen wird und es definitiv keinen Schatten hat. Ich kenne meine
Kletterschwäche bei warmen Temperaturen nur zu gut. Doch an diesem Tag muss die
Sonne unbedingt in die Route scheinen, denn ein breiter Wasserstreifen verläuft
ganz knapp neben der Route über die Wand. Werden wir die Route klettern können?
Anstieg
Es gibt nur einen Weg
dies herauszufinden. Wir schultern die Rucksäcke und nehmen den Aufstieg unter
Schusters Rappen. Schon bald sind wir beim Einstieg zum „Engeliweg“ und sind
schweissnass. Kein Wind weht und die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel. Zu
allem Überdruss liegt der Einstieg zur Route nochmals rund 50 Meter höher und
etwa 200 Meter weiter rechts. Jürgen pflügt sich locker durch das mannshohe
Gras und bei mir meldet sich die übliche Schwierigkeit mit meiner
Fehlsichtigkeit. Ich kann relativ schlecht einschätzen, ob der Fuss nun auf dem
richtigen Tritt ist und so kann es immer wieder vorkommen, dass das Auge und
das Gefühl sagen „Ja, alles ok“ und die Wahrheit heisst „Abrutschen“. Jeder
Brillenträger kennt dieses Problem, welches ganz speziell bei Gleitsichtgläsern
auftritt. Aber ohne die Teile auf meiner Nase geht es halt nicht mehr. Nach
gefühlt 1 Stunde Kampf mit den Elementen (es waren in Tat und Wahrheit 15
Minuten) komme ich endlich auf dem Band gleich unterhalb des Einstieges an. Der
Schweiss tropft von der Stirn, die Augenbrauen vermögen das Wasser nicht
aufzuhalten und so läuft mir der Saft direkt in die Augen. Kampfpause. Der Wind
frischt auf und nach 10 Minuten fühle ich mich wieder fit. Ein Blick in die
Route zeigt, dass die Chance für einen Durchstieg bei 50:50 liegt. In der
dritten Seillänge reicht das Wasser bis auf wenige Zentimeter verdächtig nah an
die Route. Was tun? Wir entscheiden uns, eine lange Pause einzulegen und die
Sonne ihren Job machen zu lassen. Will heissen, sie soll das Wasser aus der
Route dampfen.
Eine Familie aus
Tschechien startet in ihr Vergnügen im gleich neben der Handeckverschneidung
liegenden Quarzriss. Wobei ich dann doch ganz verdutzt bin, dass der Vater und
die Mutter eine Seilschaft bilden und die beiden Jungs die andere. „Chapeau“
denke ich und „hoffentlich kommt das alles gut“. Denn aus Erfahrung kenne ich
den Quarzriss und weiss, dass da der eine oder andere Runout lauert.
Wir losen aus, wer mit
der Route beginnen soll. Ich darf wählen und so entscheide ich mich sofort für
die erste Seillänge. Über meine Entscheidungsschnelligkeit bin ich noch heute
überrascht.
Blick in die Handeckverschneidung |
Die Route
Da stehe ich nun,
fully loaded mit high professional gear an meinem Gurt, angeseilt, der Chalkbag
offen, den ersten Bolt habe ich auch schon im Blickwinkel, ready to go. Es gibt
eine klitzekleine und unbedeutende Anfangsschwierigkeit: wie bekomme ich es
fertig, meine Kletterschuhe so anzuziehen, dass ich nicht grad im Schlamm
versinke? Ich wähle die Saurier-Version, d.h. einfach mal direkt los. Nach
langem Hin und Her sind dann die Schuhe an den Füssen und der Gummi total nass.
Das kann ja noch heiter werden…. Etwas hilflos versuche ich den Gummi irgendwie
trocken zu bekommen – geht einfach nicht. Dann hilft halt nur noch eines: Mut.
Mit pitschnassen Sohlen stehe ich nun auf dem ersten Tritt. Mit noch etwas mehr
Mut setze ich mich in Gang und komme beim ersten Bolt an. Endlich kann ich die
Sohle trocknen und unbeschwert weiterklettern. Die Seillänge ist herrlich zu
klettern, das Herz jubelt. Nach 40 Metern komme ich an einen bequemen Stand und
sichere Jürgen.
2. Seillänge, 5a
Jürgen klettert locker
durch die Seillänge, die an Genialität kaum zu überbieten ist. Es ist
grossartige und wunderschöne Verschneidungskletterei, die es zu bewältigen
gilt.
3. Seillänge, 5c
Bewährungsprobe! Das
Wasser läuft ganz nah an der Verschneidung über die Platten. Hhmmm….. das wird
nun ganz spannend! Am Stand flachsen wir rum und Jürgen meint, dass wir mit
unseren dicken Bäuchen nun absolut im Vorteil seien. Denn Gewicht bringt
Reibung und davon bräuchte es hier nun umso mehr. So starte ich wohlgemut in
die Seillänge und kämpfe mich in fast schon perfekter Verschneidungstechnik
immer höher. Geniale Züge reihen sich nahtlos aneinander. Wie immer suche ich
den nächsten Bolt, finde ihn auch und frage mich ernsthaft, ob ich nun jetzt
einen „Buck in der Linse“ habe. Anstatt eines Bohrhaken-Plättli sehe ich einfach
eine kleine Schlinge im Wind baumeln. „Aha“, denke ich mir so, „ja wenn es nur
so eine Schlinge gibt, dann gibt es halt nur so eine Schlinge und die wird
schon halten“. Sie muss mich aber nicht halten, denn das Klettern macht derart
viel Freude, ich fühle mich absolut sicher. Aus einer guten Kletterposition
heraus sehe ich, dass exakt dort, wo eigentlich der Kletterschuh für die
notwendige Reibung stehen sollte, exakt dort läuft das Wasser über die Platten.
Das lässt nun die Sache nicht einfacher werden. Ich weiche dem Wasser so gut es
geht aus, bis zum dem einen Tritt. Den rechten Fuss platziere ich so, dass das
Wasser exakt 1 cm rechts und links vom Schuh herunterläuft, denn es gibt wider
Erwarten eine kleine Stelle ohne Wasser. Ich suche nach Griffen, es hat aber
keine. Nun ja, der Bolt ist auch etwa 3 Meter weiter unten, das lässt das Herz
höher schlagen. Sofort erinnere ich mich an Jürgens Satz und dann gilt es.
Beherzt positioniere ich mein etwas erhöhtes Gewicht auf den Fuss, mit dem
Körper lehne ich mich stark an die Wand links von mir und erhöhe die Reibung
enorm. Ich erhöhe sie so sehr, dass ich weder runterfliege, noch dass ich höher
komme. Irgendwo finde ich einen winzigen Griff und kann mich aus dieser etwas
unbequemen Situation befreien. Herrlich! Am Stand freue ich mich riesig, diese
super Seillänge fehlerfrei begangen zu haben.
4. Seillänge, 4a
Wo Wasser ist, ist
auch Leben. Wo Wasser ist, gedeiht auch Gras. Jürgen hat das etwas spezielle
Vergnügen, sich durch das Gras zu kämpfen. Das ist nicht lustig und zu allem
Übel ist der Standplatz auch nicht angenehm. Nun denn, ist halt so.
5. Seillänge, 5c+
Ich stehe am Beginn
der letzten Seillänge der Handeckverschneidung. Der zweite Bolt gibt die
Richtung vor: nach rechts auf die Platte ohne Griffe und Tritte. Langsam und
konzentriert gehe ich die Seillänge an. Alles ist bestens, die Konzentration
ist da, die Power ist da. Ich fühle mich wirklich gut und stark. Ich klinke den
zweiten Bolt und weiss, dass jetzt eine wirklich schwierige Stelle kommt.
Schnell finde ich die Lösung. Es gilt, mit dem rechten Fuss in die Platte zu
stehen und den Körper ganz langsam gegen rechts zu verlagern um zu einem
hoffentlich guten Griff zu kommen. Sofort beginne ich mit der Umsetzung meines
Planes. Der Griff ist doch etwas weiter weg, als was ich geschätzt habe! Mit
der linken Hand finde ich einen winzig kleinen runden Griff, eher eine
Unebenheit. Konzentration! Der rechten Fuss steht perfekt, der linke Fuss ist
in der Luft, mit der linken Hand ziehe ich den Körper etwas nach rechts und
gelange mit der rechten Hand zu einem recht guten Griff. Mann, das war ein
super Move. Yes! Konzentriert klettere ich weiter und gelange in die Schlussverschneidung.
Es warten schwarzer, griffiger Granit mit guter Reibung und für die Hände der
perfekte Riss auf mich! Ein Blick nach rechts zum Stand des Quarzrisses lässt
mir ein „oh Jesses“ entfahren. Ein Seilpuff der Güteklasse 1a sehe ich dort.
Ich klettere weiter in der Verschneidung bis ich nach rechts zum Stand
abzweigen muss. Es gilt nochmals eine heikle Stelle zu meistern und dann stehe
ich am Stand des Quarzrisses! Yes! Geschafft! Genial! Schnell hole ich Jürgen
an den Stand hoch. Eine geniale Route liegt hinter uns!
Abstieg
Das Seilpuff
beschäftigt uns sicher 20 Minuten und die Mutter ist froh, dass wir ihr helfen.
Bevor die Kids sich abseilen, kontrolliere ich alles etwa 5x um sicher zu sein,
dass auch alles ok ist. Endlich wird es ruhiger und bequemer am Standplatz.
Natürlich trage ich den Durchstieg ins Routenbuch ein. So etwas muss notiert
werden! Das Abseilen geht flott vonstatten und schon bald stehen wir wieder am
Wandfuss.
Abspann
37 Jahren Warten. 37
Jahre hat es gedauert, bis ich diese wunderschöne Route klettern konnte, bis
alle Puzzleteile perfekt zueinander gepasst haben. Den mühsamen Abstieg durch
das mannshohe Gras realisiere ich nicht mehr. Ich kann das Glück kaum fassen,
dass mir/uns die Route gelungen ist. Zur Krönung gibt es das beste Abendessen
und die beste Flasche Wein, die man sich vorstellen kann. Glücklich, zufrieden
und müde gehe ich ins Bett und schlafe tief und fest.
Jürgen, erst du hast mir dieses
Abenteuer ermöglicht und mich einen meiner grössten Träume verwirklichen
lassen. Dafür möchte ich mich bei dir aufs Herzlichste bedanken. Danke!
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