...und dann kam alles anders

von Markus

Ich telefoniere am Freitagabend mit Richi. Wir wollen zusammen am Samstag klettern gehen. Er fragt mich, worauf ich denn Lust habe. Ja, worauf habe ich denn wirklich Lust? Einfach am Fels klettern, möglichst viele Meter in einem schönen Gebiet im Jura durchsteigen. Meter, Meter, einfach Bewegung an frischer Luft ist mein Wunsch. Wir verabreden uns für Samstag ohne irgendwelchen Plan, irgendwas wird uns dann schon ganz spontan einfallen.

11 Uhr P Angenstein. Ich komme mit meinem neuen Auto angebraust. 72 Kilometer sind auf dem Zähler notiert. AWD (All Wheel Drive) musste es dieses Mal sein, dafür verzichte ich auch auf sagenhafte 28 PS. AWD ist gut für mich, denn so kann ich zukünftig bis an den Einstieg hochfahren und meine Kräfte schonen. Ich bin ja Sportkletterer und nicht Sportwanderer. Stolz präsentiere ich das Auto und freue mich auf eine Fahrt durch den Jura. Doch Richi sieht das ganz unspektakulär anders und hat nicht ganz Unrecht. Der Weg hoch zum Grandval - dorthin geht es heute - ist für total neue Autos nicht geeignet. Ich nehme sein Fahrangebot gerne an und freue mich auf die vielen Meter Kletterei am Grandval. Das ist das erste Mal an diesem Tag, dass es anders kam als geplant.

Als wir in Moutier aus dem langen Tunnel fahren, strahlt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Ist Grandval mit seinen nach Süden ausgerichteten Wänden immer noch das Richtige? Zügig fahren wir zum Parkplatz hoch, um sofort wieder umzukehren. Was ist passiert? Der Parkplatz ist voll mit Autos und aus der Vergangenheit wissen wir, dass wenn mehrere Seilschaften am Grandval unterwegs sind, die Steine uns um die Ohren pfeifen. Darauf haben wir keine Lust. Doch sofort stellt sich die Frage: wohin des Weges? Das ist nun bereits das zweite Mal am selben Tag, an dem alles anders kommt als geplant.

Sofort ist klar: Arête spéciale. Der Spez ist immer schön zu klettern. Doch nur der Spez an diesem Tag zu klettern, scheint doch etwas wenig zu sein. Die in der Zwischenzeit durchtrainierten Muskeln wollen etwas leisten. Grand Tête und Spez? Doch der Jura-Kenner Richi sagt: «Mustapha». Und ich sage: «Juhui». Sofort meine Frage: «Komme ich da überhaupt hoch?» Richis Anwort kurz und knapp: «Ja».

Legenden ranken sich um «Mustapha». Der Einstieg sei extrem schmierig und sackschwer. Man komme kaum vom Boden weg. Vor vielen Jahren wollte ich zusammen mit Chris schon durch die Route klettern, doch die Kombination schmierig und sackschwer hat mich stets davon abgehalten. Doch heute gibt es kein Zurück, denn ich fühle mich fit und die Aussicht, einen dieser Wahnsinns-Klassiker klettern zu können motiviert mich enorm. Zügig fahren wir zum Parkplatz und kurz darauf stehen wir vor dem Einstieg von Mustapha. Schmierig? Sackschwer? Aus schmierig wird bei näherer Ansicht schwierig. Sackschwer? Das wird sich zeigen. Ich glaube «gfürchig» ist der richtige Ausdruck, wenn man weiss, das dieser Bohrhaken gleich beim Einstieg während vieler Jahre nicht vorhanden war und Mustapha noch als das Testpiece in der Gegend galt. Ohne diesen Bolt beim Einstieg diesen zu klettern - «Chapeau» an die Kletterer der damaligen Zeit. Richi zeigt mir dann auch, wie sich der Einstieg klettern lässt und klettert mit einem breiten Lachen hinauf zum ersten Stand. Ja, und jetzt liegt es an mir, in einer Art «Kaltstart» zu zeigen, ob ich fit und trainiert bin. Sorgfältig passe ich die beiden recht guten Griffe an, die Tritte habe ich mir vorgängig markiert, den Kletterfluss auswendig gelernt. «Go», sage ich zu mir und alles passt perfekt. Nach wenigen Sekunden habe ich die Schlüsselstelle gleich beim Beginn der Route fehlerfrei geklettert. Und – ich habe eine derart grosse Freude, ich weine beinahe vor lauter Glück. Noch vor 3 Monaten hätte ich mir diese Klettermoves nicht im Traum zugetraut. Und jetzt das – ohne Wenn und Aber, ohne Seilzug, ohne irgendwelche Angst oder Schwierigkeit klettere ich diese Stelle. Ja, das ist der Moment, an dem ich mir selber Danke sage, dass ich mit dem Training im B2 wieder begonnen habe. Den Rest der ersten Seillänge klettere ich wie im Traum. Ein herrliches Gefühl durchströmt mich. Die zweite Seillänge bietet exzellente, steile und ausgesetzte Kletterei, exakt so, wie ich es liebe. Auf die dritte und sehr kurze Seillänge verzichten wir, denn wir wissen, dass wir sicher demnächst wieder hierherkommen in die fantastische Gorge du Court, um auch im oberen Teil der Roche du Nants zu klettern. Wir seilen ab, packen zusammen. Ich bin glücklich und zufrieden, freue mich auf die Nachhausefahrt. Ich bin dankbar, dass die Pläne nicht funktioniert haben und ich ungeplant «Mustapha» habe klettern dürfen.

Doch mein Plan der gemütlichen Nachhausefahrt wird jäh durchkreuzt. Wieder kommt es anders als geplant. Richi sagt: «Jetzt gehen wir noch an den Spez». Und ich sage: «Ja» und freue mich auf die tollen Seillängen. Wenige Minuten später stehen wir am Einstieg und müssen zu unserem Leidwesen feststellen, dass eine andere Seilschaft vor uns ist. Ja, das ist jetzt nicht so der Bringer. Überholen ist nicht einfach am Spez, gerade in der ersten Seillänge. Es gelingt uns, kontrolliert und ohne böse Worte die Seilschaft hinter uns zu lassen und klettern in einem «Affenzahn», höchst konzentriert und kontrolliert den Spez hoch. Geschätzt nach etwa 40 Minuten sind wir am Ausstieg. Schnell packen wir unsere Sachen zusammen und machen uns auf den Abstieg. Es ist einmal mehr Richi, der etwas weiter denkt. Er widmet diesen Durchstieg unserem lieben und leider vor ein paar Tagen beim Abstieg vom Aletschhorn tödlich verunglückten Freund Jonas.

Ja, Jonas. Wer kannte ihn nicht im Basler Jura! Ein stets höflicher, lachender, toller Mensch und bärenstarker Kletterer mit einer markanten und kräftigen Stimme ist für immer verstummt. Ich werde Jonas im B2 oder an einer Fluh im Basler Jura stets schmerzlich vermissen. RIP


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