Mühsam beginnt der Tag...

Es gibt sie. Es gibt sie wirklich. Es gibt diese Tage, an denen stehe ich morgens auf, fühle mich wie durch die Mangel gedreht und abends bin ich einzigartig glücklich und zufrieden.

Kapitel 1: TV, PC und Smartphone

Auf YouTube sehe ich immer wieder gerne Boulder-Wettkämpfe. Auf Instagram sehe ich immer wieder grossartige Boulder-Kunst. Jedoch habe ich immer das Gefühl, dass die Boulder nicht schwierig zu klettern sind. Aber die Boulder müssen schwierig sein. Denn erstens sind Profis am Werk und zweitens kann ich an den klar hervorquellenden und definierten Muskelsträngen unschwer ablesen, dass der Boulder eben doch schwierig sein muss. Allerdings kann ich nicht abschätzen, ob etwas «schwierig» oder «sehr schwierig» oder sogar «sehr sehr schwierig» ist. Es ist die fehlende Tiefe - sprich 3D – welche auf den Ausgabegeräten fehlt. Filmt die Kamera von der Seite und aus der Nähe wird klar, dass die Boulder wirklich unglaublich schwierig zu klettern sind. Ich bin sehr gespannt auf die Olympischen Spiele 2020 und wie mein Problem der «fehlenden Tiefe» gelöst wird. Diesbezüglich verstehe ich nun auch, weshalb das Speed-Klettern ins Programm aufgenommen wurde. Speed-Klettern ist auch für den Laien einfach zu verstehen. Als Messlatte dient einzig die Anzeigetafel der verstrichenen Zeit bis zum Top und wer am Schnellsten dorthin gelangt, der hat gewonnen.

Mein persönlich ganz steiles Drama - neverending

Kapitel 2: Die Geister wecken

In der Nacht wache ich mit starken Kopfschmerzen auf. Nein, es kann nicht am Mineralwasser liegen, welches ich am Freitagabend getrunken habe. Der Schmerz hämmert, die Augen brennen. Migräne? Das darf jetzt aber nicht wahr sein! Oder etwa doch? Habe ich vielleicht wieder einmal zu wenig getrunken und der Wasserhaushalt meines Körpers ist in Dysbalance? Mitten in der Nacht würge ich mit grossem Widerwillen ein paar Schlucke lauwarmes Wasser in den Magen und hoffe, dass das Hämmern im Kopf aufhört. Nach 20 Minuten ist die Situation unverändert. Der Schmerz erinnert mich fatal an meine Kopfschmerzen in Tibet. Nichtenden wollende Kopfschmerzen vermiesten mir seinerzeit die ersten 5 Tage Aufenthalt. Seither weiss ich, wie lange eine Kopfschmerz-Tablette wirkt: exakt 120 Minuten, keine Minute länger und dem Magen tut so ein Teil auch nicht gut. Doch ich bin hier in Oberwil, bei mir zu Hause. Die Kopfschmerzen werden einfach nicht schwächer. Wie komme ich nur aus dieser Situation heraus? Die Erinnerung lässt mich zu einem alten und bestens bewährten Ritual greifen. Ich beginne mit dem Rezitieren des berühmten Mantras aus dem tibetischen Buddhismus. Purbu, seinerzeit unser treuer und verlässlicher Guide auf zwei Touren durch die Weiten Tibets, sagte mir seinerzeit, dass nach der siebten Rezitation eine innere Ruhe einträte. Nun ja, ich halte es ja nicht so mit dem Feinstofflichen. Jedoch muss ich immer wieder feststellen, dass Purbu recht hatte. So liege ich im Bett, der Kopf hämmert genüsslich vor sich hin, die Rezitation ist bei Nummer 5 angelangt und dann wache ich 4 Stunden später wieder auf. Magie?

Die Kopfschmerzen sind weg, ich fühle mich jedoch fürchterlich, kuriere ich doch noch eine Erkältung der Typhoon-Klasse aus. Drei Tassen heissen Kaffees wecken nur sehr zaghaft die Lebensgeister in mir. Um 11 Uhr bin ich im B2 verabredet. Eine weitere Trainings-Session steht an, schliesslich will ich stark werden. Gross und schwer bin ich ja schon, es fehlt nur noch das Prädikat stark. Und ich sage mir immer: besser ein schlechtes Training als gar kein Training. Pünktlich 10 Minuten zu spät treffe ich im B2 ein. Die vom Kaffee geweckten Geister haben sich bereits wieder zum Schlaf niedergelegt. Es wird ein schreckliches Training werden.

Mühsam zwänge ich mich in meine ausgelatschten Kletterschuhe, nehme den Chalk-Bag mit dem Lügenpulver in meine Hände und stosse einen nicht zu überhörenden Seufzer aus. Linke Hirnhälfte: «Muss das jetzt wirklich sein?» Rechte Hirnhälfte: «Ja!»

Langsam bewege ich mich auf den ersten Boulder zu und steige diesen erwartungsgemäss durch. So ergeht es mir beim zweiten, dritten und vierten Boulder. Plötzlich realisiere ich, dass alles bestens funktioniert, der Körper ist aus seiner Lethargie aufgewacht, die Kletter-Geister sind aktiv. Ok, da sind die Wehwehchen im rechten Knie und in der rechten Schulter, welche sich ganz zu Beginn jeder Session mit einem klaren und deutlichen «Hier bin ich» melden. An diese Schmerzen kann man sich gewöhnen.

Mein anderes sehr steiles Drama

Und dann nimmt so ein eigenartig und wunderbares Training seinen Lauf. Boulder um Boulder gelingt mir. Die Konzentration ist da, Richi hilft mir zu mehr Präzision in den Kletterbewegungen und besserer Fuss-Arbeit zu finden. Alle Anregungen nehme ich dankend auf und versuche sofort, neue Bewegungs-Erkenntnisse zu erlangen. Es macht unheimlich viel Spass, die neuen Möglichkeiten einzusetzen. Nach für mich langen 2 ½ Stunden Bouldern ist definitiv Schluss. Ich mag einfach nicht mehr, ich habe alles gegeben und fühle mich glücklich und zufrieden. Zeit nach Hause zu gehen.

Kapitel 3: Socializing

Mein langjähriger Freund Simon kommt mit seinem Sohnemann ins B2. Kurze Zeit später erkenne auch ich Stephan und Elisabeth durch dichte Magnesia-Wolken. Alles liebe Freunde, mit denen ich noch ein klein wenig zum Jahresanfang reden möchte. Da ist ja immer diese leidige Crux. Rede ich mit meinen Freunden, so ergibt ein Wort das andere, ich erfahre viel und zusammen lachen wir viel. Doch wird dadurch auch das Training des Andern gestört. Deswegen habe ich immer etwas Hemmungen, mit den Leuten während des Boulderns zu reden. Nun gut, die drei Menschen sind mir zu wichtig, als dass ich auf einen kleinen Schwatz verzichten möchte.

Kapitel 4: Live

Nach den obligaten «Schwätzli» geht es so richtig zur Sache. Statt «fehlende Tiefe» erlebe ich nun Bouldern in seiner ganzen Brillanz, Eleganz und Einfachheit in Reinkultur. Boulder um Boulder der ganz schwierigen Klasse klettern Simon und Stephan. Der eine gibt dem anderen Tipps, wie und wo ein Hook etwas besser gesetzt, wie ein trickreicher Zug optimiert werden kann. Es ist für mich wunderbar, den beiden beim «Spielen» in den schwierigsten Boulder, welche das B2 zu bieten hat, zuschauen zu können. Ich staune ab so viel Freude an der Bewegung. So viel pure und unverkrampfte Lust habe ich schon lange nicht mehr gesehen.

Die Motivation der Beiden springt auf mich über und ich möchte unbedingt wieder die Kletterschuhe anziehen. Doch der müde Körper sagt «Nein» und ich gehorche. Jedoch nehme ich diese faszinierenden Momente tief in meine Seele auf und erinnere mich immer wieder sehr gerne an diesen Moment im Januar 2019 zurück – einen Moment, der mir einmal mehr aufgezeigt hat, wie unvergleichlich schön und bereichernd Klettern auch in der Halle sein kann.

Update vom 4. November 2013

Etwas verspätet fand 2021 die Olympiade in Tokio statt. Fazit: Bouldern und Klettern am TV geht total gut. Es hat mir unheimlich viel Freude bereitet, den Athleten beim Bouldern und beim Klettern zuzusehen. Während im einen Brower-Tab für den Kunden arbeitete, arbeiteten im Tab gleich nebenan die Spitzenathleten an den ihnen gestellten Problemen. Wer hat denn den Wettstreit zwischen Tab 1 und Tab 2 gewonnen?

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