"Flacher Pfeiler" am Chli Glatten

von Markus

Corona sei Dank, sitze ich schon seit Wochen im Home-Office und habe es sehr gut. Der tägliche Trip mit der SBB nach Bern und wieder zurück fehlt mir nicht im Geringsten. Es fehlt eigentlich nur eines: Eine schöne Mehrseillängen-Tour! Ich gehe liebend gern an den Grimsel (oder heisst es die Grimsel?) um auf den Granitschliff-Platten herumzurutschen, doch das Wetter scheint mir trotz Sonnenschein nicht ideal zu sein (Schneeschmelze) und so verschiebe ich dieses Ansinnen auf die Sommerzeit. Dannzumal möchte ich unbedingt ein paar Meter im Granit klettern. Interessieren würde mich nach vielen Jahren eine Wiederholung des Ultraklassikers "Fair Hands Line". Auch "Sagittarius" steht ganz oben auf der Wunschliste. Das bin ich schon noch meinem Sternzeichen schuldig. Doch - das weiss auch ich - das sind sehr beliebte Routen auf Weltklasse-Niveau und ich höre immer wieder die gleichen Abenteuer-Geschichten über langes Anstehen und Kletterer, die den Schwierigkeitsgrad nicht beherrschen. Nun gut, mein Leben ist noch lang und es wird sich der richtige Moment finden, dessen bin ich mir sicher. 

27. Mai 2020, 19:03: "..kleines MS Bergtürli gefällig...?" So blinkt mein WhatsAppWeb auf, mitten in einem sehr mühsamen Software-Test. Ich habe gelernt, Prioritäten zu setzen und Sekunden später tippe ich "Ja, noch so gern" als Antwort. 10 Sekunden später klingelt das Telefon. Am Apparat ist Richi. Wir vereinbaren, am nächsten Tag die Route "Flacher Pfeiler" am Chli Glatten am Klausenpass zu klettern.  Seit meinem Abenteuer mit Jüschi am Zentralpfeiler war ich nicht mehr in dieser Gegend klettern. Weshalb eigentlich? Die Wettervorhersage ist optimal mit viel Sonne und hohen Temperaturen.

Richi an der ersten Schlüsselstelle

Wir treffen uns beim B2, besuchen Andy, den wir während dem Schrauben von Routen antreffen und fahren kurz darauf los. Wie immer, wenn Richi und ich zusammen unterwegs sind, gibt es viel zu besprechen, ganz speziell in dieser sehr eigenartigen Corona-Zeit. Das Wetter ist unglaublich schön, eine herrliche Bergtour steht an. Wir freuen uns beide. Nach gefühlt 15 Minuten Fahrt, in Tat und Wahrheit sind es deutlich mehr, parkiere ich das Auto auf einer kleinen Alp. Wir steigen aus, machen uns bereit und marschieren Richtung Einstieg. Der Anstieg wird immer steiler und es führt nur ein sehr loser Weg bis zum Einstieg. Ich schwitze, wie schon lange nicht mehr und ich bin im "Reinhold Messner auf 7000 Meter über Meer ohne Sauerstoff"-Modus. Gewöhnlich bin ich nach einem solchen Anstieg müde, doch dieses Mal spüre ich nach kurzer Erholung keine Müdigkeit. Ich freue mich unbändig auf diese Tour. Richi schnallt sich, sehr unüblich für ihn, eine Wasserflasche an den Klettergurt. Das ist ein Indiz, dass er mit Durst in der Route rechnet. Das habe ich bis jetzt sehr selten gesehen und meine Erfahrung sagt mir deshalb, es wird wohl sehr warm werden. Der Wind hat etwas aufgefrischt, beide ziehen wir unsere Windstopper an, obwohl wir nicht ganz sicher sind, ob wir sie nicht schon nach der ersten Seillänge wieder versorgen können. 

Eine sensationell schöne Seillänge, die nie enden dürfte


Es geht los. Richi steigt in die erste Seillänge ein und schon bald kann ich gewohnt regelmässig Seil ausgeben. Da ist kein Zögern, keine Pause, ruhig und gleichmässig gebe ich das Seil aus. "Stand" höre ich von fern und so mache ich mich bereit. "Ok" höre ich und so starte auch ich in die Seillänge. Und dann passiert etwas, was ich schon wirklich sehr lange nicht mehr hatte - ein Déjà-vu! Ich schwöre, ich stand noch nie an diesem Pfeiler und ich bin zum allerersten Mal überhaupt in dieser Gegend. Kurz bevor ich mit dem Klettern beginnen möchte, weiss und sehe ich exakt, was ich als Nächstes tun werde und weiss genau, wo die Griffe und Tritte sind. Ich spüre die Umgebung nicht, die Gedanken sind absolut fokussiert, eine wohlige Wärme der Freude und des Glücklichseins durchströmt mich. Das war ein seltsames jedoch wunderschönes Erlebnis und irgendwie beschäftigte mich dies während der ganzen Seillänge.

Ein seltener Anblick - am scharfen Ende des Seils

Nach der dritten Seillänge schiebt sich eine vom Wetterdienst nicht vorhergesagte dicke graue Wolke vor die Sonne. Es wird sofort deutlich kühler. Beide sind wir froh, dass wir nun den Windstopper angezogen haben und keinem wird heute noch in den Sinn kommen, diesen je wieder auszuziehen. Der Wind frischt weiter auf, der Chill-Faktor setzt ein. Mutig und dem stetig heftig werdenden Wind trotzend klettern wir durch fantastisch schöne Seillängen. Bei der zweitletzten Seillänge ist Schluss, zu kalt ist uns beiden und so seilen wir ab. Auch diesbezüglich hat die Route etwas zu bieten. Rund 40 Meter frei hängend zum nächsten Standplatz abseilen, das habe ich noch nie gemacht und ich bin so froh, dass Richi vor mir abgeseilt ist und den Standplatz gefunden hat. Denn so konnte er mich mitten in der Luft hängend zu sich an den Stand ziehen. Ich wäre höchstwahrscheinlich am Seil hängend - verhungert? Bald sind wir wieder beim Einstieg zur Route, packen alles zusammen und steigen so schnell als möglich ab.

Die Route an sich ist der absolute Hammer. Das Klettern hat mir unheimlich viel Spass gemacht und dort wo die schwierigen Stellen sind, glänzen rostfreie Bolts um sich notfalls im p.a.-Modus in die Höhe zu wuchten. Die Ausgesetztheit und die Steilheit sind genial und von unten nicht sichtbar. Deshalb haben wohl die Erstbegeher auch den Routenamen mit "Flacher Pfeiler" gewählt. Richi bringt noch einen Aspekt auf. In der Route sind noch die Bohrhaken von 1978. In die möchte man eigentlich nicht stürzen. Die Frage ist jedoch: Was bewegte Menschen im Jahr 1978 mit ein paar Bohrhaken, welche äusserst mühsam in den Fels getrieben werden müssen (da gab es noch keine tragbaren Akku-Bohrmaschinen), diesen Fels zu begehen. Es muss wohl die absolute Freude am Klettern und am Unbekannten sein. Auf jeden Fall haben sie eine wunderbare Linie gefunden und eingerichtet.

Richi gehen die Ideen für schöne Klettereien nie aus

Ich werde auf jeden Fall nochmals in diese Route einsteigen, doch vorher ganz exakt den Wetterbericht studieren. Auf jeden Fall werde ich wieder den Windstopper mitnehmen. Ich freue mich jetzt schon auf diese Tour.







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