"Letzter Tango" an der Grimsel

Nachdem ich zusammen mit Richi am "Flacher Pfeiler" unterwegs war, kehrt völlig überraschend eine grosse Dürre in mein Kletterleben ein und es dauert seine Zeit, bis alles wieder im Lot ist. 

Während ich so vor meinem PC sitze und wie immer verflixt komplizierte Testfälle durchführe, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Mit meinem Freund Markus wollte ich schon seit Langem wieder einmal eine Klettertour unternehmen. Zuletzt waren wir zusammen am "Hohgant" unterwegs, seither haben sich unsere Kletterwege nicht mehr gekreuzt. Ich tippe eine kurze Nachricht an ihn und - schwups - bekomme ich eine Antwort. Wir verabreden uns zu einer Schwatz-Boulder-Session im B2. Wir haben uns schon sehr lange nicht mehr gesehen und so gibt es extrem viel zu bereden. Die Zeit vergeht im Flug und wir verabreden uns, am darauffolgenden Samstag zusammen eine Klettertour zu unternehmen. Bei Markus ist es so, dass ich angeben darf, wohin die Reise geht. Und schon komme ich ins Grübeln. Was könnte uns beiden denn viel Spass bereiten? Ich wälze die Kletterführer, doch will es mir einfach nicht gelingen, eine für uns beide interessante Tour zu finden. Etwas an der Grimsel war von Anfang an klar, aber auf "Sagittarius" und "Fair Hands Line" habe ich keine Lust. Azalee Beach? Die Seeplatten am Räterichsbodensee? Oder doch der "Engeliweg" am Ölberg? Ich kann mich einfach nicht entscheiden. 

Der Einstieg ist mit einem gelben LT markiert

Plötzlich fällt mir ein, dass auf filidor.ch immer wieder neue Touren aufgelistet werden und so finde ich den Eintrag "Neutour Gerstenegg (Grimsel)" und klicke neugierig auf den Link. Et voilà - das ist die Route für Markus und mich! Die beiden Erschliesser sind Andreas Pfeuti und Patrik Müller. Andreas Pfeuti kenne ich noch aus meiner Zeit in der JO Basel-Stadt. Von Patrik weiss ich, dass er die Routen hervorragend einrichtet. Ich schreibe Patrik an und bekomme viele wertvolle Informationen über die Route und deren Entstehungsgeschichte. 

Eine der vielen und langen Seillängen

Am Samstag, 4. Juli 2020 fahren Markus und ich zusammen ins Berner-Oberland, machen einen kurzen Kaffee-Halt im Restaurant Handegg und fahren weiter zur Staumauer beim Räterichsbodensee. Wir haben Glück und können das Auto gleich bei der Staumauer parkieren. Wir steigen aus und ein eiskalter und heftiger Wind bläst uns ins Gesicht. Ist es nicht doch zu kalt? Wir ziehen das Kletterzeug an, packen dicke Pullover ein und machen uns auf den Weg. Auf der Staumauer bläst der Wind extrem stark und es ist wirklich eiskalt. Wir reden nicht, gehen einfach weiter und hoffen, dass der Wind irgendwann aufhört. Kurz vor dem Ende der Staumauer ist es so weit - kein Wind mehr. Innert Sekunden ändert sich das Feeling von eiskalt zu total heiss. Jetzt wird mir schmerzlich bewusst, dass ich vergessen habe, mich mit Sonnencrème einzureiben. Das wird einen wunderschönen Sonnenbrand geben, dessen bin ich mir absolut sicher. Wir marschieren weiter zum Einstieg und treffen dort - Patrik. So klein ist die Welt. 

Herrlichste Granitkletterei

Wir machen uns bereit und es liegt an mir, die erste Seillänge zu klettern. Seit 4 Jahren war ich nicht mehr im Granit unterwegs und so fühlt sich das Klettern sehr ungewohnt an. Die erste Seillänge ist geschafft, ich nehme Markus nach und freue mich enorm, an diesem Moment an diesem Ort zu sein und diese schöne Route klettern zu können. Im Vorstieg abwechselnd, steigen wir immer höher, das Klettern macht Spass, die Standplätze sind wunderbar bequem. Was will man mehr? Ruhe! Einfach ein paar Motorräder weniger wäre schon wirklich toll. Speziell ärgert mich der Höllenlärm der Motorräder in einer wirklich delikaten Seillänge. 

Die absolut geniale 12. Seillänge

Von unten sehe ich die Bohrhaken, doch sehe ich auch, dass über die Route ein kleiner Bach fliesst. Links und rechts gibt es kein Durchkommen, aalglatte Granitschliff-Platten glänzen in der Sonne. Vorsichtig klettere ich höher und hänge einen Bohrhaken ein. Der Fels ist nass und sauber. Vorsichtig setzte ich die Kletterschuhe auf kleine Unebenheiten, konzentriere mich und steige langsam höher. Schon kann ich den nächsten Bohrhaken einhängen. Doch wie steige ich von hier weiter hoch? Es fliesst nun etwas mehr Wasser über die Route und es gibt nun weder Tritte noch Griffe. War es das mit dem "Letzten Tango"? Müssen wir umkehren? Ich überlege, was Richi an meiner Stelle gemacht hätte. Richi hätte versucht, die Stelle zu klettern. Ich überlege, was wohl Ueli Steck an meiner Stelle unternommen hätte. Auch Ueli wäre weitergeklettert. Meine beiden Idole meinen also, dass ich weiterklettern soll. Ich analysiere die Situation und auch das Sturzpotenzial. Wie weit stürzte ich? Wäre ich verletzt oder hätte ich einfach nur ein paar Schürfungen? Rechterhand des Felsens orte ich eine Möglichkeit, mindestens 1 1/2 Meter höher steigen zu können. Es wird höchstwahrscheinlich ein Kampf durch Gras und Dreck werden. Ich weiss auch, dass ich diese Stelle nicht mehr abklettern werden kann. Eine sehr heikle Situation habe ich zu bewältigen. Konzentration! Doch auf der Grimsel-Passstrasse tobt gerade das absolute Motorrad-Lärm-Festival. Es ist derart laut, dass ich selbst Markus, der mir etwas zuruft, nicht verstehe. Der Lärm fordert meine Nerven enorm und dringt tief in mein Denken ein, lässt mich nervös werden. Ich weiss, dass dieser Lärm aus dem Kopf heraus muss und ich weiss auch, dass ich nur total konzentriert und fokussiert diese Stelle schaffe. Es braucht schon fast übermenschliche Kräfte, diesen sagenhaften Lärm aus dem Kopf zu verbannen, doch es gelingt mir. Fokussiert und aufs Äusserste gespannt, arbeite ich meinen Plan ab. Der letzte Bolt ist nun 3 Meter unter mir, das Wasser fliesst unverändert stark über die Platte. Ich sehe einen Tritt für den linken Fuss. Vorsichtig stelle ich den Fuss auf diesen Tritt und belaste ihn. Ohne jeglichen Halt rutscht der Fuss ab. Oh je! Jetzt wird es wirklich richtig haarig und gefährlich. Der einzige Tritt weit und breit ist der, von dem ich soeben abgerutscht bin. Ich schaue nochmals den Tritt genau an, sehe kleine Unebenheiten und kratze noch ein Steinchen raus. Nochmals positioniere ich den Fuss auf dem Tritt und belaste diesen ein klein wenig anders. Der Schuh hält. Ich belaste mehr. Der Schuh hält. Ich belaste noch mehr und mache mich auf eine lange Reise nach unten gefasst. Der Schuh hält. Sagenhaft! Erleichtert kann ich den Bohrhaken klinken und freue mich riesig, dass alles gut gegangen ist. Der Rest der Seillänge ist nicht mehr ganz so heikel, doch wird die Konzentration voll gefordert. Am Standplatz angekommen fühle ich mich richtig gut. Eine der heikelsten Situationen in meinem Kletterleben habe ich erfolgreich gemeistert. Allerdings hat diese Seillänge sehr viel Nerven gekostet und das fordert nun ihren Tribut. Nach 12 von 16 Seillängen sind wir müde, speziell ich bin total genervt und mental vom stundenlangen ununterbrochenen Motorrad-Lärm am Ende. Wir seilen über die Route ab. 

Und noch so eine wunderschöne Seillänge

Auf dem Weg zurück zum Auto müssen wir beide feststellen, dass wir doch sehr müde sind und mein Sonnenbrand macht sich bereits bemerkbar. Nach einem feinen Abendessen im Hotel Handegg fahren wir wieder nach Hause und freuen uns über den "Letzten Tango".

Danke Markus für diesen supertollen Tag!

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Hoi Markus
Vielleicht ergibt sich mal ein lärmfreier Tag am Grimselpass, dann kannst Du dich nämlich gleich links der Letzten Tango, an unserer allerneuesten Kreation versuchen!
Ist aber eine Länge länger und einen Tick schwieriger! Dafür der Fels noch homogene und der Zustieg 5 Meter kürzer;-)
Also, ab in das Ausdauertraining und nächsten Herbst wieder an ein langes "Grimselmonster"!

Liebe Grüsse
Patrik
Markus hat gesagt…
...ein langes Grimselmonster. Genau das ist es doch, was ich suche. Genial. Besten Dank für den Tipp