Plagne: Hypothénuse

Das B2 ist seit kurz vor Weihnachten 2020 geschlossen. Corona. Wie lange bleibt es geschlossen? Niemand weiss es. Das B2 war und ist immer noch "meine Liebe", ich gehe sehr gerne dorthin. Es ist dieser einzigartige Spirit, der dort herrscht und ich treffe dort meine Freunde und kann das tun, was ich am liebsten tue: klettern. 

Doch das B2 ist geschlossen, bleibt geschlossen. Es wird für viele Wochen, wenn nicht gar Monate geschlossen bleiben. Training? Wo? Wie? Mich wirft dieser Umstand aus der Bahn und bis zum heutigen Tag finde ich nicht in den normalen Rhythmus zurück.

Ich versuche, mich irgendwie fit zu halten, gehe viel laufen. Doch die Belastung durch das Kletter-Training fehlt. Es kommt genau so, wie ich es befürchtet habe bzw. noch etwas schlimmer. An einem schönen Samstag im Januar oder Februar 2021 gehe ich einmal mehr zusammen mit Richi klettern, Mary und Fred kommen kurz später nach. Das Top-Rope hängt, ich mache mich bereit, um die Route zu klettern und Mary sagt: "Du solltest auch wieder einmal einen neuen Klettergurt kaufen".

Ein paar Wochen später liegt ein wunderschöner neuer Klettergurt vor mir, schwarz mit orangefarbenen Express-Schlaufen. Alles gut, alles bestens, doch etwas macht mich sehr nachdenklich: die Grössenangabe XL. Tatsächlich ist es so, dass ich durch den Wegfall eines regelmässigen Trainings wie ganz viele andere Menschen auch, schlicht und einfach zugenommen habe, und das nicht zu knapp.  

Der Samstag, 20. Februar 2021 verspricht ein wunderbarer Klettertag zu werden. Ich fühle mich fit und bin motiviert. Richi hat einmal mehr eine geniale Idee: "Hypothénuse" an der Plagne. Er möchte die Route schon lange klettern, doch die Routenbeschreibung sieht einen "sicheren Nachsteiger" vor. Ich fühle mich sicher, sage natürlich "Ja" zu diesem Plan und freue mich, gleichzeitig den neuen Klettergurt einzuweihen.

Einmal mehr fahren wir nach Plagne und finden fast auf Anhieb den richtigen Parkplatz. Wir packen unsere Kletterutensilien und begeben uns auf den Weg an die Wand. Schon beim Überqueren der viel befahrenen Strasse ahne ich, dass etwas nicht ganz so ist, wie es sein sollte, wie ich es von mir gewohnt bin. Der Weg an die Wand stellt sich als äusserst mühsam und anstrengend dar. Holzfäller-Arbeiten haben stattgefunden und so gibt es keinen richtigen Weg mehr, sondern wir müssen uns steil den Hang hochkämpfen, immer wieder dicke Bäume überkletternd. Ich schnaufe "wie ein Ross" und schwitze enorm. Wir finden die Route, die natürlich wie viele andere Routen auch, etwas feucht ist. Feuchte oder nasse Routen haben Richi noch nie abgehalten nicht in eine Route einzusteigen - mich allerdings schon. 

Richi im Quergang der Hypothénuse

Mit fürchterlich viel Respekt schaue ich die Route hoch. Müsste ich am "scharfen Ende" des Seils klettern, für mich wäre der Fall klar. Doch Richi zeigt keinerlei Interesse dem so zu tun, sondern zieht komplett entspannt und sich auf die Route freuend seine Kletterschuhe an. Noch ein paar kontrollierende Handgriffe, ob denn auch alles mit dabei ist und schon steigt er ein - über nassen Fels. Ja, gut, Richi kommt da schon hoch. Aber ich? Grosse Zweifel kommen in mir auf. Im gewohnten Tempo klettert Richi weiter, offenbar muss ausserhalb meines Blickfeldes alles bestens sein. "Stand" tönt es von oben, ich mache mich bereit. Im Hirn wütet ein fürchterlicher Sturm. Nasser Fels. Nasse Tritte. Nasse Griffe. Nass! Es braucht viel Überwindung, in die Route einzusteigen. Von Richi habe ich gelernt, dass es sich in solchen Situationen ohne Chalk viel besser klettern lässt. Ich brauche das Zeug ja sowieso meistens nur, um meine Nerven zu beruhigen, nicht weil ich es wirklich bräuchte oder es notwendig wäre. Von Richi habe ich auch gelernt, sauber auf die Tritte zu stehen, dann hält es schon. Die ersten beiden Meter sind für mich "gefühlt" unkletterbar, doch irgendwie schaffe ich es ohne Chalk und ohne abzurutschen auf ein erstes Bödeli zu klettern. Uff, Glück gehabt, alles bestens, die grösste Schwierigkeit ist jetzt sicher vorbei. Doch dann schaue ich auf die kommenden Meter und erkenne kaum Griffe und Tritte in der Schlüsselstelle der ersten Seillänge. Und, also ob das nicht schon schlimm genug wäre, die Tritte und Griffe, die ich erkenne, sind feucht. Ich versuche die Stelle zu klettern, doch ich versage komplett. Ein mutiger Griff in den Express hilft mir, diese Stelle zu klettern. Innerlich bin ich bereits ein Wrack, meine tägliche Portion Angst ist über das Limit ausgeschöpft. 

Die nächste Seillänge sieht trocken aus, es ist der Start in den wunderschönen Quergang der Hypothénuse. Richi klettert los, kontrolliert, routiniert und ohne irgendwelche Anzeichen von Schwierigkeiten. Gewohnt gebe ich das Seil aus. Ein paar Minuten später tönt es von weit rechts "Stand". Ich mache mich bereit, klinke die Selbstsicherung aus und beginne mit dem Klettern. Schöne Moves an guten Griffen und Tritten lassen das Desaster aus der ersten Seillänge etwas vergessen. Ein Quergang als Seilzweiter hat ja immer so seinen ganz speziellen Reiz. Da wird das Top-Rope von einem Moment auf den nächsten zum Vorstieg. Ich gebe mir alle Mühe, doch es geht nicht immer ohne den beherzten Griff an den Express. Langsam aber sicher dämmert mir, dass ich wirklich komplett ausser Form bin!

Am Stand angelangt, lacht mich Richi an und ich bin einfach nur dankbar, dass ich die Seillänge ohne grössere Schäden an Geist und Körper überstanden habe. Doch das war erst die zweite Seillänge. Die Route ist definitiv länger. Und wieder geht das gleiche Spiel von vorne los. Richi klettert die nächste Seillänge gewohnt gekonnt und komplett fehlerfrei. "Stand" tönt es wieder von viel weiter rechts und ein weiteres Mal, mache ich mich bereit. Die ersten Moves kann ich problemlos klettern, dann überfällt mich eine lähmende Leere und ich agiere nur noch. Die Füsse und speziell die Zehen schmerzen und vernebeln mir noch mehr den Geist. Die mentale und auch physische Überanstrengung aus den ersten beiden Seillängen spüre ich bereits nach wenigen Meter. Wo ist jetzt der "gute Nachsteiger", den ich grossmäulig ausgegeben habe? Ich gebe eine jämmerliche Figur ab, ärgere mich selber über mich. So einen schwachen Nachsteiger hat Richi nicht verdient. Es braucht ja viel, bis ich nichts mehr sage, doch am Standplatz angekommen, bin ich mit meiner gebotenen unterirdischen Leistung selber nicht zufrieden und Richi sagt einfach nichts. Die vierte Seillänge bietet wiederum Kletterei der Extraklasse und ich kann die schlimmsten Wunden an meinem Ego mit einem sauberen No-Express und No-Hang Top-Rope abschliessen.


Der fantastische Quergang und ein völlig überforderter Kletterer

Ich bin enttäuscht von mir selber. In der Selbstwahrnehmung dachte ich, dass ich nicht so sehr viel Kraft, Energie oder Kletterkönnen verloren habe. Ich wusste schon, dass einfach nicht trainieren nicht die beste aller Lösungen ist. Die "Hypothénuse" hat mir eindrücklich etwas anderes gezeigt und ich fühle mich tief in der Schuld von Richi. Er, der begnadete und begeisterte Kletterer und Boulderer, hat es nicht verdient, einen derart schlechten Nachsteiger zu haben. Ich fühle mich wirklich schlecht.

Zu Hause angekommen wird mir klar, dass ich etwas gegen das Erlebte unternehmen muss. Doch das B2 ist weiterhin geschlossen und es wird wohl noch auf unbestimmte Zeit geschlossen bleiben.

Wie bekomme ich die überschüssigen Kilos weg? Wie kann ich meine Kraft wieder aufbauen? Was muss ich tun, damit ich einfach wieder halbwegs fit werde? Wie komme ich zu Klettermeter? Viele, viele Gedanken und Ideen verwende ich auf diese Antwort, doch es fallen mir keine wirklich guten Antworten ein. Soll ich ein Moon-Board in mein Home-Office stellen oder ein Kilter-Board in den Keller? Oder soll ich ein Beastmaker-Board in der Wohnung montieren? 

Richi gibt mir viele motivierende Tipps und auch mit Roland rede ich lange über das Thema. Mit dem Klettern aufhören ist auch eine Option. Geschlagen und enttäuscht das Feld verlassen ist auch eine Möglichkeit und keiner wäre mir böse. Jeder hätte Verständnis dafür.

Nur einer hat kein Verständnis dafür: ich selber.

Die Lösung hört denn auch auf einen interessanten Dreiklang: "WaterRower", "Eisenhorn" und Basil.


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