Overlimit…

von Chris

Nun ist es vorbei… Jahrelang habe ich das 'Enfant' * schwanger ausgetragen…

Drei Mal, dachte ich, stehe es kurz vor der Geburt: 2003, 2004 und 2007… 

Den ersten Geburtstermin sagte ich mir selber ab, als ich anfing Hundertprozent zu arbeiten. Seinerzeit sah ich mich zwar nach einem sechsmonatigen Training mit Plänen von Dominik Egloff an einem Punkt, an dem ich mich so stark wie nie zuvor fühlte. Gleichzeitig aber spürte ich ein Damoklesschwert über meinem Haupt baumeln. Ich stand kurz vor Beginns eines harten und für mich ungewohnten Arbeitsregimes. Es war mir klar, dass diese mir die Energie für ein Klettern am Limit abziehen würde. In der mir noch knapp zur Verfügung stehenden Zeit stellte ich mich deshalb vor die Wahl, die von mir eingebohrte 'Ravage'-Extension 'Zeichen der Verwüstung' erstzubegehen oder das 'Enfant' zu knacken… Ersteres erschien mir erfolgversprechender und ich lag richtig. Gerade noch einen Tag vor Beginn des unglaublich langen und heissen Sommer 2003 konnte ich die 'Zeichen' setzen… 'Enfant' fiel flach… 
'Enfant de Bohême' mal ganz trocken...

Im April 2004 ein nächster Versuch. Die Power aus dem Vorjahr schien ich irgendwie  konserviert zu haben und erreichte gleich drei Mal eine nie zuvor erreichte Höchstmarke. Ich meinte dem Durchstieg ganz nah zu sein. Doch in Tat und Wahrheit war ich weit davon entfernt. Denn in diesem Climb rieb ich mich schneller auf, als mir das lieb war. Insbesondere am sechsten und letzten Bolt, den man im Durchstieg gar nicht klippt, wartete auf mich ein derart schmerzhafter und hautfressender Fingerklemmer. So war ich bereits nach wenigen Versuchen zu Pausen verdammt, um die Haut heilen zu lassen. Schwierig über eine längere Periode hinweg untätig rumzusitzen und zu warten, einerseits, um die Höchstform zu halten, und andererseits, dauerhaft einen trockenen Climb vorzufinden: 'Enfant' wird nach wenigen Tropfen Regen schnell patschnass… 

Tatsächlich verlor ich in den folgenden Jahren einiges an Power, respektive widmete mich anderen Kletterzielen, legte eine lange Bouldersession ein, und so weiter… mir schien klar zu werden, dass es mit einer für mich so schweren Route nichts mehr werden würde… Oder doch nicht? 

Teil von 'Enfant' - der 'Ravage'-Kreuzzug
Im 2007 hoffte ich mich mit der Brechstange durchzusetzen. An einem Punkt im Leben angelangt, während dem es mir mental nicht so gut ging, dachte ich, ich könnte mich mit einem tollen Kletterprojekt ablenken und so aus dem Sumpf ziehen… Mein wenig durchdachter Plan sah vor, dass ich nur genügend Zeit in die Route zu investieren brauche, denn dann würde ich die Kraft aus den Jahren zuvor wieder wecken und so meinem Klettertraum realisieren - ganz nach dem Motto 'Viel hilft viel' und 'Von Nichts kommt nichts'… In weniger steilen Climbs wie an der Falkenfluh hatte diese Methode sogar schon funktioniert… für ein athletisches Körperspannungsmonster wie 'Enfant' aber nicht. So bezahlte ich bei meinen Versuchen teures Lehrgeld… Meine Investition von Juli bis September trug keine Früchte und es wurde mir klar, dass ich gescheitert war. Ich musste erneut aufgeben… 

Der Entscheid war vernünftig. Ich hatte erst einmal mein Leben zu ordnen, was zum Glück auch gelang. Anderes wurde wichtig. Aber auch im Klettern selbst verschoben sich die Ziele erneut. Ich machte neue Erfahrungen. Wurde auch mit Verletzungen zurückgeworfen. Aber ich rapppelte mich wieder auf. Das alles braucht jedoch seine Zeit. Dahinter aber, im tiefsten Innern nagte es aber stetig, das 'Enfant'… Es war real und hatte einen Teil meines Lebens besetzt. Einfach aufgeben? Ich wusste, wenn ich es doch noch schaffen wollte – die Lebensuhr tickt ja schliesslich auch noch – dann hatte ich etwas Grundlegendes in meinem Kletterstil zu ändern. Wie ich auf diesem Blog schon beschrieben habe, ist mir das zu einem grossen Teil auch gelungen. Letztendlich war es eine Verbindung aus meiner mir eigenen spielerischen, im reinen Klettern aufgehenden Seite mit einer analytischen Seite, dem gezielten Training und der Vorbereitung geschuldet, welche ich erst erlernen musste.

Juli 2015 - 19.00 Uhr - Boulderhalle bei 40°C - alleine
Es hat sich gelohnt. Ich hatte auch buchstäblich das Glück auf meiner Seite. Ich fand mit diesem Sommer genau den richtigen Zeitpunkt - obwohl ich noch nie in einem Sommer mein Leistungspeak hatte. Mit dem Ausbouldern begann ich im noch kühlen Juni kurz vor der ersten Hitzewelle dieses Sommers und spürte schon, dass sich viel verändert hatte. Dieses Jahr war ich frei von den Erfahrungen, die ich die die Jahre zuvor in der Route gemacht hatte. Ein nicht zu unterschätzender Faktor. So gelang es mir, den Climb frisch und unbelastet anzugehen. Ich fand neue Lösungen, insbesondere lernte ich den Fingerklemmer an einer anderen Position so zu halten, dass er nicht mehr schmerzte. Ich war inspiriert, begeistert vom Klettern. Es war jedoch mein ganz persönliches Vorhaben. Ich erzählte niemanden davon, dass ich wieder am 'Enfant' war... Oft verbrachten Tina und ich unsere Tage am Chuenis allein.

Dass ich zu jener Zeit – auch in der Hitze, als es sich nicht mehr lohnte, am Fels klettern zu gehen - dennoch fünf Mal die Woche trainierte, hatte keine Ermüdung zur Folge, sondern half mir die Körperspannung zu halten, wenn nicht zu verbessern. Oft stand ich allein im Glutofen des B2, wo ich meine selbstentwickelten Powerübungen praktizierte, während alle anderen sich am Birsköpfle und im Rhein tummelten. Intuitiv machte ich diesmal offenbar alles richtig. 

So kam die letzte Juliwoche mit auf einmal unerwartet kühlen Temperaturen. Und diese konnte ich nutzen. Ich war bereit, die Power da, mit dem nötigen Glauben an das Gelingen. Die Route staubtrocken wie selten. Der Durchstieg in Gegenwart von einigen lieben Kollegen, die mich auch wirklich anfeuerten und mir damit halfen. Es war dann tatsächlich auch das intensive, herbeigesehnte Erlebnis. Am Limit zu ziehen, die letzten Züge zum Umlenker - wie in einer von der übrigen Welt abgekapselten Sphäre. Ein Neuland an Erfahrung, dass sich kaum als solches beschreiben lässt und mir noch ein paar Jahre Stoff zum Verarbeiten bietet. 

Ein starker Moment in einem an Bildern reichen Leben als Kletterer…

* =

Mit 'Enfant de Bohême' handelt es sich um eine 8c am Chuenisberg. 1986 von Wenzel Vodicka eingebohrt, teilt sie die ersten drei Bolts mit dem Überklassiker 'Ravage' und zieht dann weiter nach rechts. Die erste Begehung mit der ursprünglichen Bewertung von 8c+ gelang 1996 Fred Nicole. Bis heute sind ungefähr 15 Begehungen verzeichnet. 2015 wurde sie von mir mit Klebebolts saniert. Der Routenname – von Fred Nicole initiiert – ist ein Wortspiel mit der berühmten Arie L'amour est un oiseau rebelle aus der Oper Carmen von G. Bizet. Die Textpassage L'amour est enfant de bohème stand Pate für das Wortspiel Enfant de Bohême – Kind aus Böhmen – und bezieht sich auf den oben genannten Tschechen Wenzel, der – wer ihn in seiner Aufenthaltszeit in der Schweiz gekannt hat – einfach nur ein grosses Kind war…

Kommentare

Markus hat gesagt…
Da bleibt mir nur eines zu sagen: Chapeau! Der junge Jura-Saurier hats voll drauf! Oder besser: When things come together. Grossartig! Herzlichen Glückwünsch zum 'Enfant'. Ich durfte dich vor langer, langer Zeit (da gab es nicht mal die Idee von Jura-Sauriern) auch einen winzig kleinen Teil während dieser wahrhaft unbeschreiblich tollen und motivierenden Geschichte begleiten. Es war und es ist für mich immer noch unbegreiflich, wie sich ein Mensch an derart kleinen in einem derart überhängenden Gelände halten kann. Es fühlt sich schon etwas wie Stolz an, dich ein gar klein wenig unterstützt haben zu dürfen. Ich erinnere mich noch gut an unsere ersten Chuenisberg-Sessions. Du in Enfant und ich? Ich weiss es nicht mehr. Ist auch total egal. Wir hatten schönste Erlebnisse am Fels und es war der Anfang eine unglaublich schönen und edlen Freundschaft.

Markus
martin hat gesagt…
WOW!!! thats crazy!!! herzlichste gratulation!!! hab ichs doch gewusst. irgendwann machst du das ding. den allergrössten respekt für die begehung und vor deiner motivation nach all den jahren und versuchen!!! inspiration pur!

aber komm mir nie wieder von wegen du hast keinen "strom" ;) ohne "strom" klettert man keine (super schweren) routen am chuenis!!!

keep rocking, martin
Chris hat gesagt…
Yo, Markus, Merci! Ich kann mich noch gut daran erinnern. Das war im 2004, bei einem der oben erwähnten Höhenrekorden. Wir hatten wie so oft eine gute Zeit und viel zu Lachen. Und mit dir hatte ich beim finalen Runout nie Angst! Bis bald mal wieder :)
Chris hat gesagt…
Hey Martin, Danke auch dir! Wenigstens du hast an mich geglaubt :) Welche Bedeutung ein Langzeitprojekt für einen selbst haben kann, muss ich dir ja nicht erklären :) Wie sich das anfühlt, wenn ein solches Projekt im Leben andauernd mitschwingt. Auch wenn der Prozess eine tolle Erfahrung ist, fühlt sich doch sehr gut an, diesen einmal abzuschliessen. Darum wünsche ich dir für dein Highlander-Projekt nur das Beste und den entscheidenden Stupf auf den letzten Zügen! ...ja, mit dem "Strom" ist das so eine Sache... Danke, dass du mir den attestierst, doch mein Durchstieg war sicher die Enfant-Begehung mit der schwächsten Volt-Zahl und leider aus einem Diesel-Notstrom-Aggregat und nicht wie gewünscht aus einem AKW.. AKW's haben bekanntlich nur ca. 30 Jahre Laufzeit... Da liege ich bald 20 Jahre darüber. Umso sensationeller, dass in meinem Motor nicht die Keilriemen gerissen sind... Let's keep weiter rocking... :)